Die sexualisierte Darstellung des Heiligen in Derek Jarmans Langfilmdebüt „Sebastiane“ löste 1976 eine gesellschaftliche Kontroverse aus. Seitdem finden queere Repräsentationen seiner Legende zwischen Schmerz und Lust immer wieder Aufmerksamkeit in der Kunst.

So wie viele frühchristliche Märtyrer*innen wurde auch der heilige Sebastian (ca. 255–288) gerne von Renaissancemalern ins Bild gesetzt – wiederholt etwa von Andrea Mantegna und Guido Reni, aber auch von Botticelli, Albrecht Dürer, Tizian, Anthonis van Dyck und anderen. 1977 schrieb der kanadische Kritiker Thomas Waugh über „schwule Renaissancemaler, die es mit dem heiligen Sebastian am Pfahl immer wieder übertrieben“. Seinen Artikel widmete Waugh der Figur des Heiligen in „Que viva Mexico“ (1930–1932), dem unter einem schlechten Stern stehenden Dokumentarfilm des sowjetischen Filmemachers Sergei Eisenstein, der seine Homosexualität verdeckt gelebt hatte. Im Jahr vor der Veröffentlichung von Waughs Artikel war Derek Jarmans erster Langfilm „Sebastiane“ (1976) herausgekommen. Der in gemeinsamer Regie mit Paul Humfress entstandene Film arbeitete den queeren Subtext heraus, der im 16. Jahrhundert niemals unverhüllt hätte gezeigt werden können – nicht einmal in dem 1525 entstandenen Gemälde des italienischen Künstler Giovanni Bazzi, der den Spitznamen „Il Sodoma“ trug.

Guido Reni: Saint Sebastian, 1615, Image via commons.wikmedia.org

Ein Prüfstein für queere Darstellungen

Der von Humfress und Jarman in lateinischer Sprache gedrehte Film erzählt Sebastians Geschichte in Grundzügen. Antiken Berichten zufolge war er Hauptmann der Prätorianergarde am Hof des römischen Kaisers Diokletian. Es war die Spätzeit der Christenverfolgung, und als sich herausstellte, dass Sebastian Christ war, wurde er zur Erschießung durch Bogenschützen verurteilt. Der Film „Sebastiane“ endet mit einer Einstellung des von Pfeilen durchbohrten Körpers, wie wir ihn von zahlreichen Darstellungen der Renaissance kennen. Nicht erwähnt wird, dass Sebastian der Legende nach überlebte und von den heiligen Irene gesund gepflegt wurde. Er trat Diokletian öffentlich entgegen und wurde zur Strafe mit Keulen erschlagen.

Trotz dieser Auslassung wurde „Sebastiane“ zu einem Prüfstein für queere Darstellungen des Heiligen. Der Film eröffnet kühn mit einer dekadenten Queer-Performance, bei der mit übergroßen Penissen ausgestattete Männer eine stark geschminkte Tänzerin (gespielt von Lindsay Kemp) umkreisen – eine Reminiszenz an Orgien in den improvisierten Undergroundfilmen von Ron Rice und Jack Smith aus den 1960er-Jahren. Sebastian tritt ein und küsst Diokletian, dann interveniert er, um zu verhindern, dass ein kaiserlicher Lustknabe von einem Schwarzen Angehörigen der Garde erwürgt wird. Zum einfachen Soldaten degradiert, wird er in eine abgelegene Küstengarnison verbannt. Dort weigert er sich zu kämpfen und widmet sich lieber der Verehrung des römischen Sonnengottes Phoebus Apollo.

Derek Jarman und Paul Humfress: Sebastiane, 1976, Filmstill (c) Salzgeber , Image via spielfilm.de

Drei zutiefst homoerotische Erzählungen verweben sich: die ekstatische sexuelle Beziehung zwischen den Soldaten Adrianius und Antonius, erzählt in langen Einstellungen, die sie küssend im glitzernden Mittelmeer zeigen; die Freundschaft und unerwiderte Liebe des Soldaten Justin zu seinem zölibatären, pazifistisch gesinnten Kameraden; und die Obsession des befehlshabenden Offiziers Severus, der Sebastian peinigt und zu vergewaltigen versucht, was wiederum impliziert, dass der eigentliche Grund für dessen Hinrichtung letztlich in seiner Zurückweisung von Severus’ Annäherungsversuchen liegt. Die Folter- und Erschießungsszenen rücken den Körper des Heiligen in den Mittelpunkt. Die Weise, wie er sein Leiden zu genießen scheint, enthält unverkennbare Anspielungen auf BDSM-Praktiken und löste bei der Erstaufführung von Jarmans Film kontroverse Reaktionen aus. Zugleich zementierte sie auch Sebastians Anziehungskraft für nachfolgende Künstler*innen, die seine Geschichte in einer Vielzahl von Ausdrucksformen aufgriffen.

Derek Jarman und Paul Humfress: Sebastiane, 1976, Filmstill (c) Salzgeber
Der heilige Sebastian in der Kunst von den 1960er-Jahren bis heute

Jarman war jedoch nicht der erste schwule britische Künstler, der eine sexualisierte Annäherung an die Legende wählte. Sein Freund und Zeitgenosse Keith Vaughan malte 1962 „The Martyrdom of Saint Sebastian“ und stellte darin mehrere unbekleidete Figuren dar, so etwa den an ein Kreuz geketteten Sebastian und zwei Männer, die sich suggestiv übereinander beugen. Glauco Otavio Castilho Rodrigues zeigt in „Saint Sebastian in June“ (1985) den Schutzpatron Rio de Janeiros während des Karnevals: Seinen Kopf umgibt Blut, neben ihm erscheint eine weinende Frau, um deren Handgelenk ein Seil gebunden ist, und vor ihm ein feiernder Mann mit Badeshorts in den brasilianischen Nationalfarben. So wie Jarman und Vaughan fordert auch Rodrigues die Betrachtenden auf, sich die durchlässigen Grenzen zwischen Lust und Schmerz zu vergegenwärtigen. Im eigenen nationalen Kontext thematisiert er zudem die Zensur schwuler Theaterstücke und Publikationen durch die Militärdiktatur, die Homophobie linker Oppositionsgruppen und den Kampf der sich herausbildenden brasilianischen Schwulenbewegung um Sichtbarkeit.

John Keith Vaughan: The Martyrdom of Saint Sebastian, 1962, Image via artuk.org

In jüngerer Zeit haben sich auch Louise Bourgeois und Damien Hirst abstrahierter Darstellungen von Sebastians pfeildurchbohrtem Körper bedient, um Schmerz auf eine viszerale Weise auszudrücken. Bourgeois’ „Saint Sebastienne“ (1992) gibt einen kopflosen weiblichen Körper im Zustand physischer wie psychischer Belagerung wieder; Hirst hingegen legte den von Pfeilen durchbohrten Körper einer Kuh in seiner Arbeit „Saint Sebastian, Exquisite Pain“ (2007) in Formaldehyd ein.

Von größerem Interesse für ein queeres Publikum ist vielleicht Miles Greenbergs Ausdauerperformance „Étude pour Sébastien“ (2023), für die sich der Künstler bemalen und von echten Pfeilen durchbohren ließ. Ein zu diesem Anlass entstandener Film erlebte im Januar seine Uraufführung im Louvre. Er zeigt, wie Greenberg über den für seine Extrem-Performances bekannten US-Künstler Ron Athey eine Piercerin fand und seine fünf Stunden dauernde Performance im Louvre zeigte – in ihrem Verlauf ahmte er jede Pose nach, an die er sich von Sebastiandarstellungen in Gemälden, Radierungen und Skulpturen erinnern konnte. 

Damien Hirst: Saint Sebastian, Exquisite Pain, 2007, Image via arthive.com

Allein schon über diese Arbeit zu lesen, ist unglaublich intensiv, geschweige denn sie zu sehen oder auszuführen: Am faszinierendsten erweist sich Greenberg dann, wenn er die Adrenalinschübe beschreibt, die der Körper im Augenblick des Durchbohrtwerdens produziert und die die Sinneswahrnehmungen blockieren, um den Schmerz des (wahrscheinlichen) Todes zu minimieren. Dies erklärt womöglich auch den eigentümlich delirierenden Gesichtsausdruck klassischer Sebastiandarstellungen. Angesichts ihrer queeren Untertöne, ihrer Homosozialität und sadomasochistischen Freude an grausamer körperlicher Bestrafung wird die Märtyrerlegende vermutlich aber noch lange nach Greenbergs außergewöhnlicher Katalogisierung ihrer historischen Posen für LGBT+ Künstler*innen von Interesse sein.

Miles Greenberg, Étude pour Sébastien, 2023, Image via news.artnet.com

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