HUMANITÄT IM STREIK
Was heißt es menschlich zu sein und wer entscheidet eigentlich darüber? In diesem Artikel erfahrt ihr, warum Künstlerin* und Autorin* Will Fredo für einen temporären Humanitäts-Streik plädiert.
Von Will FredoMenschen – oder besser gesagt, diejenigen, die als Menschen gelten – stehen im Mittelpunkt von allem. Dem war aber nicht immer so. Jahrhundertelang wurde in den berüchtigten Tierprozessen, die in Europa bis ins 18. Jahrhundert stattfanden, Menschen und Tiere an denselben moralischen Maßstäben gemessen. Als etwa 1379 zwei Schweineherden einen Mann in einem französischen Kloster töteten, wurden die Schweine ebenso wie die Augenzeug*innen des Vorfalls nach den damals geltenden Rechtsvorstellungen vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.
Die Tierprozesse (sie sind Thema des Films „Pesthauch des Bösen“ von 1993 mit Colin Firth in der Hauptrolle ebenso wie von Juliana Huxtables und Hannah Blacks Performance „Penumbra“ von 2019) waren in Europa gängige Praxis. Und so bizarr sie sich für uns heute auch anhören, eröffneten sie doch eine Tür zu einer über den Menschen hinausweisenden Seinslehre. Es stimmt zwar, dass die moralischen Standards, die den Tieren auferlegt wurden, ausschließlich von Menschen bestimmt waren. Und doch barg die Vorstellung, das Tier und Mensch potenziell dieselbe Handlungsfähigkeit und -pflicht (und somit auch Rechte) besaßen, zugleich die Sprengkraft, die Überlegenheit des Menschen infrage zu stellen, die Unangemessenheit dieser Annahme und die Lüge ihrer Allgemeingültigkeit aufzudecken – hätte man nur in irgendeiner Form die Ontologie der Tiere berücksichtigt.
Tierprozesse waren in Europa gängige Praxis
In Europa finden zwar keine Tierprozesse mehr statt, doch geändert hat sich nicht viel – weder an der Weise, wie wir auch heute noch menschliche Subjektivität und Seinsvorstellungen in den Mittelpunkt stellen, noch an unserer Haltung gegenüber allem und jedem, was nicht als (vollständig) menschlich gilt. Dies leitet sich von der fünf Jahrhunderte alten europäischen Praxis der Zerstörung Indigener Seinsweisen her, die Menschen ebenso wie Nicht-Menschen Rechte zugestehen und keinen Unterschied zum Natürlich-Stofflichen machen. Seit Jahren setzen sich Organisationen für die Rechte von Tieren ein, etwa die umstrittene PETA und das Nonhuman Rights Project (NRP). Wer aber kämpft für die Rechte von Sachen oder derjenigen, die nur Sachen sein wollen? Oder für das, was sich dazwischen befindet – die Nicht-Sachen? Das NRP wurde von dem US-amerikanischen Juristen Steven M. Wise gegründet, der sich auf Fragen des Tierschutzes spezialisiert und 2000 das Buch „Rattling the Cage. Toward Legal Rights for Animals“ veröffentlicht hat.
Das erste von fünf auf der NRP-Website genannten Zielen lautet: „Die Rechtsstellung von Menschenaffen, Elefanten, Delfinen und Walen, die bislang als ‚Sache‘ gelten und somit keinerlei Rechtansprüche besitzen, zu ändern, sodass sie als ‚Rechtssubjekte‘ über Grundrechte wie das Recht auf körperliche Freiheit und Unversehrtheit verfügen.“ Und hier schließt sich eine weitere Überlegung an: Warum denken wir nicht einmal andersherum, denken quer und krempeln das Ganze um, indem wir auch bloßen „Sachen“ Rechte zugestehen? Warum tut unsere Gesellschaft so, als hätten nur diejenigen, die Eingang in den exklusiven Klub der Menschen gefunden haben, Anspruch auf Rechte und Achtung? Die kurze Antwort liegt in der europäischen Kolonialisierung, aus der wiederum die neoliberale Politik der Gegenwart hervorgegangen ist, die auch heute noch Schwarze Menschen und Indigene Völker verdrängt, ihre antikapitalistischen Ontologien und Epistemologien zerstört. Warum aber ist es so, dass allein „Personen“ für uns ein uneingeschränktes Recht auf Leben besitzen?
Warum denken wir nicht einmal andersherum, denken quer und krempeln das Ganze um, indem wir auch bloßen „Sachen“ Rechte zugestehen?
Die hier von mir gestellten Fragen verweisen auf einige Themen, die die brasilianische trans Künstlerin* Bruna Kury in ihrer Videoarbeit „Gentrificação dos Afetos“ (Gentrifizierung von Affekten) behandelt. In dem Video, entstanden im Auftrag des Kunstprojekts SHTV und in Zusammenarbeit mit Gil Porto Pyrata, stellt Kury zunächst Verbindungen zwischen dem Umstürzen von Statuen w e i ß er Kolonialherren und der Errichtung von Standbildern brasilianischer Schwarzer männlicher Abolitionisten her. Hinzu treten Aufnahmen von einer Performance der Künstlerin*, in der sie die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, zwischen sich selbst und Kakerlaken, aufhebt.
Wo liegt die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch?
Letztere gelten in vielen Gesellschaften als die einzigen „gottlosen“ Geschöpfe der Welt, und so steckt Kury – als Zeichen für die Akzeptanz der eigenen „Gottlosigkeit“, Animalität und Abjektheit – ihren Kopf in einen Acryl-Würfel mit krabbelnden Kakerlaken. Sie bedient sich somit der Abjektion, um die Annahme menschlicher Überlegenheit zu erweitern und zu unterminieren, und unternimmt zugleich einen Versuch der Imaginierung, wie eine (Ko-)Existenz abjekter Wesen über das reine Überleben hinaus aussehen könnte, indem sie Bilder von unerwarteten Formen eines Miteinanders von Mensch und Tier schafft.
Diese Verweigerung des Menschseins spiegelt sich auch in einem Song der brasilianischen Künstlerin* Mogli Saura, mit der Kury letztes Jahr gemeinsam das Buch „A Póspornografia Como Arma Contra a Maquinaria da Colonialidade“ (Postpornografie als Waffe gegen die Maschinerie der Kolonialität) veröffentlicht hat. Sauras Song entstand in Reaktion auf Kurys Arbeit und enthält den Refrain: „Ser humano em greve. Ser humano em greve“ (Menschliches Wesen im Streik). Um es in aller Klarheit zu sagen: Die Humanität von heute ist ein neoliberales Konstrukt und will, dass jede*r die eigene Seele für die Aufnahme in den Klub verkauft, während kolonial inspirierte Hierarchien (oder die „kognitive Plantage“, wie es die Künstlerin* und Schriftstellerin* Jota Mombaça ausdrückt) fortbestehen. Dem Klub darf beitreten, wer seinen Indigenen Namen abgelegt oder seine erste Million gemacht hat, wer als „cis“ durchgeht oder eine Hautfarbe besitzt, die dem W e i ß sein genehm ist, wer mit einer etablierten Galerie zusammenarbeitet und so fort.
„Der Feminismus ist ein Animalismus. Anders gesagt: Der Animalismus ist ein erweiterter, nicht-anthropozentrischer Feminismus“, stellt der Philosoph Paul B. Preciado in seiner Essaysammlung „Ein Apartment auf dem Uranus“ (2019) fest. Er fährt fort: „Der Humanismus erfand dann einen anderen Körper, den er menschlich nannte, ‚human‘: einen souveränen, weißen, heterosexuellen, gesunden, samenspendenden Körper“. Eine nicht-humanistische „dingliche“ Ontologie setzt also nicht den Menschen als ihren Ausgangspunkt (und auch nicht als Ziel), sie beginnt vielmehr mit allem und jedem, was der Humanismus als abjekt erachtet. Dies ist möglicherweise der einzige Weg, dafür zu sorgen, dass alles in dieser Welt über das reine Überleben hinaus leben kann. Dass wir nicht nur das Leben aller fördern, sondern auch den Tod ehren – all jene ehren, die durch die Hand der Humanität gestorben sind. Dass unsere parallele Priorität darin besteht, diese Tode zu vermeiden.
Der Feminismus ist ein Animalismus. Anders gesagt: Der Animalismus ist ein erweiterter, nicht-anthropozentrischer Feminismus
Und was, wäre wenn in einer Umkehrung des derzeitig geltenden Systems auch die „monströseste“ Person ein Anrecht auf Leben hätte? Würden Gefängnisinsassen dann immer noch glauben, es wäre ihre Pflicht, Mitgefangene zu töten, die „noch bedauerlichere“ Verbrechen begangen haben? Hätten die millionenschweren Kindersexualstraftäter*innen Epstein und Maxwell auch getan, was sie getan haben, und wären so lange damit davongekommen, wenn die missbrauchten Mädchen als Lebewesen/Sachen mit Rechten behandelt worden wären? Hätte das FBI die Anzeigen dieser Mädchen auch dann jahrzehntelang ignoriert, wenn Maxwell sie nicht als „Nichts“ und „Trash“ (im Vergleich zu sich selbst) bezeichnet hätte?
Die vollständige Ablehnung der Kategorie des „Humanen“ geht einher mit der Selbst-Identifizierung mit und Akzeptanz der Kategorie des „Subhumanen“, in die einige eingeordnet werden. Darüber hinaus ist – wie der Moralphilosoph Peter Singer, der den Begriff „Speziesismus“ populär gemacht hat, in seinem Buch „Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere“ (1975) darstellt – die Grenze zwischen Mensch und „Tier“ Grenze völlig willkürlich gezogen. Es ist also an uns, sie neu zu definieren. Donna J. Haraway geht in ihren Büchern „When Species Meet“ (2008) und „Das Manifest für Gefährten“ (2003) noch weiter: Sie entlarvt die Mythen des menschlichen Exzeptionalismus, die Hand in Hand mit dem Kapitalismus auch weiterhin ausgrenzende Kategorien konstruieren, die die Ausbeutung sämtlicher natürlicher und materieller Ressourcen bis hin zum globalen ökologischen Kollaps rechtfertigen.
Diejenigen, die vom humanistischen System abgelehnt werden, erklärt man allein deshalb für abjekt, weil sie nun einmal so sind, wie sie von Natur aus sind – das Gegenteil des Menschenideals. Und daher ist es notwendig, dass sie sich (mich eingeschlossen) weigern, Menschen werden zu wollen, den Unterdrückenden im Austausch für eine Illusion von Achtung ähnlicher zu werden. Wir müssen uns weigern, „human“ werden zu wollen, selbst wenn es bedeutet, in Angst zu leben und (je nachdem, wo man lebt) das Risiko einzugehen, für diese Weigerung kurzerhand umgebracht oder sogar zum Tode verurteilt zu werden.
Daher, liebe Mit-Sachen und Nicht-Sachen, werde ich, solange die Strukturen und Geister, die diese Welt regieren, einer jeder existierenden Sache/Nicht-Sache ihr Leben und ihre Rechte absprechen, auf jedwede Humanität, die ich besitze, verzichten. Ich gebe sie ab. Details bitte per E-Mail erfragen. Nur ernst gemeinte Zuschriften.
BLACK HISTORY MONTH
Februar ist #BLACKHISTORYMONTH: Dies nehmen wir zum Anlass, aktuelle Debatten und Positionen auf dem SCHIRN MAG in den Blick zu nehmen und Schwarze Akteur*innen in der Kunst- und Kulturszene in den Fokus zu stellen.