Im nachfolgenden Essay untersucht Autorin Natasha A. Kelly, inwieweit Marimba Anis Buch „Yurugu“ (1994) heute noch relevant ist für die Auseinandersetzung mit rassistischen Denkweisen und Mythen in Deutschland und Europa.
Amma, die oberste Gottheit des westafrikanischen Dogon-Volkes, erschuf alle Lebewesen gemäß des universellen Grundsatzes der Komplementarität. Daher verlieh er*sie jedem einzelnen bei der Geburt Zwillingsseelen – eine weibliche und männliche. In einem Fall jedoch wollte ein männliches Wesen namens Yurugu den Abschluss seines vollständigen Entstehungsprozesses nicht abwarten. In seiner Überheblichkeit wetteiferte er mit Amma, was dazu führte, dass sein Geist unvollendet blieb. So kam es also, dass die Erde unvollkommen war und einige Bewohner*innen unseres Planeten nur eine Seele besaßen. Auch heute noch sind Yurugus Nachkommen destruktiv veranlagt und werden von Amma, der*die Yugurus weibliche Seele weitergegeben hatte, abgelehnt.
In ihrem 1994 erschienenen Buch „Yurugu“ bedient sich die afroamerikanische Anthropologin Marimba Ani der Figur des Yurugu, um Europas vorgebliche Überlegenheit und seinen Zerstörungswillen zu vergegenwärtigen. Ihre umfassende Kritik am europäischen Denken und Verhalten untersucht die Ursachen globalen weißen Überlegenheitsdenkens und schlägt eine dreifache Konzeptualisierung von Kultur vor, ausgehend von den Begriffen „asili“ (Ursprung), „utamawazo“ (Weltbild) und „utamaroho“ (Energie) – alle drei hat Ani aus dem Swahili übernommen und/oder hergeleitet. Auch der Begriff „maafa“ wird im Buch behandelt: Auf Swahili bedeutet er „großes Unheil“ und beschreibt die Versklavung der afrikanischen Bevölkerung.
‚Utamaroho‘ und ‚utamawazo‘ sind höchst kraftvolle Phänomene in der europäischen Erfahrung. Im ‚asili‘, dem Wurzelprinzip ihrer Kultur, sind sie zusammengeführt. Weder das Wesen des europäischen ‚utamaroho‘ noch die Natur seines ‚utamawazo‘ sind veränderlich, sofern sich das ‚asili‘ nicht selbst ändert.
Ani beschreibt den Ursprung der europäischen Kultur („asili“) als beherrscht von Vorstellungen der Trennung und Kontrolle. Trennung habe für die Entstehung von Dichotomien wie „der*die Europäer*in“ und „der*die Andere“, „das Denken“ und „das Fühlen“ gesorgt, während die Kontrolle sich hinter einem Universalismus verberge. Diesem Modell zufolge ist das europäische Weltbild („utamawazo“) strukturiert anhand von Ideologie und Biologie. Seine Lebenskraft („utamaroho“) zieht es aus der Beherrschung, was sich in der Oktroyierung europäischer Kultur und Zivilisation auf die Völker der Welt spiegelt. Doch ist Europas Erfolg abhängig von der Begründung eines Nationalbewusstseins, denn das europäische „utamaroho“ ist vorrangig politischer Natur. Daher ist auch die Frage der nationalen Identität ein wesentlicher Ansporn für die Menschen, das anzustreben, was sie als Größe wahrnehmen.
Die europäische Kulturgeschichte, so Ani, offenbare die zentrale Bedeutung von Mythos und Mythenbildung für politische Erfolge. Den unter Europäer*innen verbreiteten Mythos der nationalen Herkunft beschreibt sie als „Germanomanie“, denn dem germanischen Volk wurde eine „unvermischte Abstammung“ nachgesagt (und es pflegte auch dieses Selbstbild). Aus diesem Grund galt es gegenüber allen anderen Nationalstaaten als überlegen mit einer universalen zivilisatorischen Mission. In Spanien, England und weiteren europäischen Ländern bestand ein dringliches Verlangen nach der Assoziierung mit den Deutschen. Die Engländer*innen etwa waren bis zum Ersten Weltkrieg noch stolz auf ihr angeblich deutsches Erbe, und der Anglosaxonismus vertrat die Ansicht, das englische Volk stamme von den deutschen Angeln, Sachsen und Jüten ab.
Der Mythos des Ariers wurde bald schon zu einer Überzeugung, die den Deutschen dazu diente, Macht über andere anzustreben. Als zentral in der europäischen Erfahrung erscheint in dieser Hinsicht der Mythos einer ethnisch-nationalen Herkunft. Martin Luther etwa, als Ideengeber der religiösen Reformationsbewegung gefeiert, war vor allem ein deutscher Nationalist, der gegen das Primat des lateinischen Christentums aufbegehrte. Er verglich den Papst mit dem Antichristen und gab den Nationalgefühlen des deutschen Volkes, das sich von Rom ausgebeutet fühlte, eine Stimme.
Jahrhunderte später sollte Adolf Hitler in der gleichen Tradition stehen. An die Stelle einstiger Behauptungen biblischer Charaktere traten nunmehr rassistische und nationalistische Ideologien. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lag ein Großteil Europas in Trümmern. Nur wenige Nationalstaaten aber konnten in der Befreiung vom Nationalsozialismus ihren eigenen Sieg sehen. Schließlich gewann der europäische Gedanke (wieder) an Kraft, was sich in kultureller Hinsicht in einem Verlust nationaler Identitäten äußerte, bedingt durch die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Identität und die Ausrichtung auf sie – dabei blieb der Mythos der arischen Abstammung stets unangefochten.
Derzeit will die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) die Europäische Union zu einem losen Verbund von Nationalstaaten umwandeln, da sie glaubt, Deutschland verliere seine nationale Souveränität. In ihrem politischen Programm für die Bundestagswahl 2017 forderte die AfD unmissverständlich, dass Deutschland es Großbritanniens gleichtun und die EU verlassen solle, wenn diese nicht zu einem „Europa der Vaterländer“ zurückkehre. Gleichzeitig forderte die Partei die Aufkündigung der Transferunion und den Austritt Deutschlands aus der Eurozone, da die grundlegenden Währungsregeln (keine Haftung für die Schulden anderer Länder sowie eine Gesamtverschuldung bis maximal 60 % des jeweiligen BIP) nicht eingehalten worden seien. Da die AfD davon ausgeht, dass die Zuwanderung aus Afrika in wenigen Jahren den europäischen Kontinent destabilisieren werde, will die Partei „unseren Nachkommen ein Land hinterlassen, das noch als unser Deutschland erkennbar ist“. Diese Aussage zeigt klar die nationalistisch-rassistische Ideologie der AfD, was aber die Partei nicht daran hinderte, (erneut) in den deutschen Bundestag einzuziehen.
Darüber hinaus offenbaren die verschiedenen Ausprägungen des europäischen Selbstbildes ein „utamaroho“, das mit dem des weißen Nationalismus im Einklang steht. Insofern erweist sich Anis Publikation nach wie vor als relevant, wenn es darum geht, sich mit der Kontinuität und Zentralität von rassistischen Denkweisen und Mythen in Deutschland wie in Europa auseinanderzusetzen. Sie gibt uns ein analytisches Werkzeug an die Hand, um die Maske des weißen Überlegenheitsdenkens abzureißen. Die Vorstellung von „asili“ erlaubt somit eine Entlarvung eurozentrischer Weltanschauungen und Dominanzdenkens, indem es verschiedene Ausdrucksformen und Merkmale europäischer Identität durch eine afrikazentrierte Linse betrachtet. Und dies, so Ani, sei die einzige Perspektive, aus der Europa als kulturell und ideologisch unvollständig wahrgenommen werden könne.
BLACK HISTORY MONTH
CONTEMPORARY AND (C&)
Dieser Text von Natasha A. Kelly wurde zuerst bei Contemporary And (C&) veröffentlicht. Februar ist #BLACKHISTORYMONTH: Dies nehmen wir zum Anlass, aktuelle Debatten und Positionen auf dem SCHIRN MAG in den Blick zu nehmen und Schwarze Akteur*innen in der Kunst- und Kulturszene in den Fokus zu stellen.