Das umstrittene Gesamtkunstwerk „DAU“ von Regisseur Ilya Khrzhanovsky läuft seit Kurzem in Paris. Ein Blick hinter die Kulissen.
Ich stehe Schlange auf der Place du Châtelet in Paris. Hier soll heute Abend in den Spielstätten Théâtre du Châtelet und Théâtre de la Ville die Weltpremiere von „DAU“ stattfinden, ein vor über zehn Jahren begonnenes Filmprojekt über das Institut des sowjetischen Physikers Lev Landau. Dreizehn Filme sollen rund um die Uhr in einer dreiwöchig zugänglichen Installation und partizipativen Performance als immersives Gesamtkunstwerk präsentiert werden. Bereits vor Tagen hatte ich ein „Visum“ beantragt, wie der Erwerb einer Eintrittskarte hier genannt wird.
Aus dem auf der Mitte des Platzes als „DAU Visa Center“ errichteten Glaspavillon tritt Ilya Khrzhanovsky, Regisseur und Kopf des gigantischen Kunstprojekts, und bahnt sich einen Weg durch die Menge. Er geht auf eine Gruppe älterer Damen in Pelzmänteln zu, wechselt einige Worte auf Russisch, entfernt sich wieder, führt geheimnistuerisch ein Telefongespräch und verschwindet mitsamt seiner Entourage wieder im Inneren des Pavillons. Vor der Treppe, die zum Pavillon führt, bildet sich eine Menschentraube, Pässe werden hin- und hergereicht, die Situation wirkt chaotisch. Ab und zu wird eine Person in den Glaspavillon gewunken, eine Logik ist dabei nicht zu erkennen, man wird eben warten müssen, wie man es von staatlichen Behörden ja gewohnt ist. Zunehmend stellt sich das Gefühl ein, dass man sich bereits mitten in der fiktiven Welt von „DAU“ bewege. Schließlich bekomme ich mein Visum ausgehändigt, ein verblüffend echtes Imitat eines offiziellen Staatsdokuments, mit Foto und Wasserzeichen, ausgestellt vom „DAU Generalkonsulat“.
Man wird eben warten müssen, wie man es von staatlichen Behörden ja gewohnt ist
„Es lebe, vom Willen der Völker gegründet, die einige und mächtige Sowjetunion“, schallt es in deutscher Sprache und ohrenbetäubender Lautstärke durch den für Bauarbeiten entkernten Saal des Théâtre de la Ville. Auf die Hymne folgt stark verfremdete sakrale Choralmusik, ein gigantischer schräger Spiegel wirft im Halbdunkel das Bild des leeren Orchestergrabens in die Zuschauerränge. In diesem Raum werden in den folgenden Tagen zwölf der dreizehn Teile des DAU-Filmprojekts zu sehen sein.
Eine Stunde zuvor stand ich wieder einmal Schlange, diesmal in strömendem Regen. Die Premiere war wegen fehlender Erlaubnis der Behörden abgesagt worden, mit einem Tag Verzögerung können die BesucherInnen zumindest eine der beiden Spielstätten der Installation begehen. In der Empfangshalle sind in großen Lettern die Begriffe „Brain“, „Betrayal“, „Motherhood“, „Revolution“, „Animal“, „Gods“, „Body“, „History“, „Future“ zu lesen, die die verschiedenen Räume des Theaterbaus bezeichnen. In großen grauen Spindtürmen, die an die Ästhetik staatsbürokratischer Archive erinnern, sollen BesucherInnen ihre Handys einschließen.
Man stürzt sich auf den Gratiswodka und führt Smalltalk an der Bar
Auf einer Anhöhe sind mehrere in spiegelnder Silberfolie gekleidete Kabinen aufgebaut, die für individuelle Besuchergespräche mit Priestern und Psychologen nach den Filmvorführungen vorgesehen sind. Der futuristische Look lässt an die Ästhetik der sowjetischen Raumfahrt- und Technikutopie denken. Hin und wieder begegnet man einem Darsteller des Films als hyperrealistische Wachsfigur. Beschallt werden die Räume von Ambient-Klängen aus der Feder Brian Enos. An der Bar ist ein Schiller-Zitat zu lesen, in dem die „Wirklichkeit“ zur „Dichtung“ wird. Sonst passiert auch hier im Foyer des Théâtre de la Ville, was man aus anderen öffentlichen Kulturveranstaltungen kennt: man stürzt sich auf den Gratiswodka und führt heiteren Smalltalk an der Bar.
Einer der drei Filme, die ich im Théâtre de la Ville zu sehen bekomme führt zunächst in die Welt der ArbeiterInnen und Angestellten des „Instituts“ ein: Reinigungskräfte, Hausmeister, Kantinenpersonal. Zu Beginn sieht man einen Angestellten, der mit einem Laubrechen den scheinbar makellosen Schotterweg vor dem Institut bearbeitet. Diese Szene einer sinnlosen Tätigkeit, die sich als Leitmotiv durch die Filme zieht, führt in ihrer Langsamkeit den realistischen Darstellungsmodus von „DAU“ vor: die Dehnung der filmischen Zeit durch lange, schnittlose Einstellungen. Wer Ilya Khrzhanovskys Debüt „4“ gesehen hat, wird sofort die Handschrift des Regisseurs wiedererkennen. So werden wir Zeuge der endlosen Saufgelage des Dienstpersonals, das sich wüsten und obszönen Beschimpfungen hingibt.
Der Verzicht auf narrative Komprimierungen zeigt sich bereits in der schieren Länge des Films. Der direkte, realistisch-dokumentarische Charakter des filmischen Ansatzes Khrzhanovskys schlägt sich auch in der Entscheidung nieder, das gesamte, ungeschnittene Rohmaterial als Teil der Installation zu zeigen. So haben die BesucherInnen Zugang zu insgesamt 700 Stunden Filmmaterial, die im Untergeschoss des Theaters in Videokabinen präsentiert werden.
Viele der Darsteller wohnten bis zu drei Jahre in dem Filmset
Die experimentelle Situation des Reality-TV-Formats – viele der Darsteller wohnten bis zu drei Jahre in dem Filmset, die Handlung der Filme entstand teilweise aus ihren spontanen sozialen Interaktionen– kann dabei zu Szenen von entwaffnender Offenheit, Intimität und Zärtlichkeit führen, jedoch auch in brutaler Weise Gewaltverhältnisse reproduzieren. Im letzten Film der Reihe bekommt eine Jungsozialisten-Gruppe des Komsomol den Auftrag, alle Mitglieder des physikalischen Instituts zu ermorden. Als Anführer der Gruppe spielt der russische Neonazi Maksim Martsinkevich sich selbst. Die vom Regisseur als Sozialexperiment, als Spiel in einem von der Freiheit der Kunst definierten Rahmen verstandene Einladung einer Gruppe Rechtsextremer als Darsteller ist Teil einer Strategie, die provokant darauf abzielt, die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit zu verwischen.
Nicht zuletzt diese Faszination an Grenzüberschreitungen dürfte den medialen Hype um „DAU“ erklären. Doch einmal mehr wird hier die Freiheit der Kunst zur Legitimation sexistischer und homophober Gewalt sowie fragwürdiger Arbeitsbedingungen im Kunstbetrieb herangezogen. Dass eine Gruppe Neonazis den amerikanischen Performance-Künstler Andrew Ondrejcak mit homophoben Beschimpfungen vom Filmset vertrieben hat, wird von Khrzhanovsky mindestens in Kauf genommen. Ebenso wie die, laut Medienberichten, sexistischen Belästigungen während des Drehs und die totalitär anmutende Ausbeutung und Überwachung der prekär beschäftigten MitarbeiterInnen des megalomanischen Kunstprojekts.
Die Faszination an Grenzüberschreitungen dürfte den medialen Hype um „DAU“ erklären
Später am Abend irren vereinzelte Menschengruppen durch die Gänge des Théâtre de la Ville. Die Projektbeteiligten in den grauen Anzügen sind so ratlos wie alle anderen Gäste auch. Den ganzen Abend schon zirkulieren vage Informationen über möglicherweise stattfindende „Performances“, „Konzerte“, „Talks“. Aber immer wieder: Fehlanzeige. Spätestens jetzt wird den Anwesenden klar, dass sich hinter „Immersion“, „Partizipation“ und „Experiment“ nicht viel mehr verbirgt als Dekoration und ein ebenso aufwendiges wie schlecht organisiertes Begleitprogramm der Filmpremiere.
In der vierten, „Communism“ betitelten Etage, sind die einzelnen Räume im Stil sowjetischer Gemeinschaftswohnungen der 1950er Jahre eingerichtet, mit allerhand herumliegendem Nippes und Flohmarkt-Antiquitäten, gestickten Leninbildern und Postkarten an den Wänden. In einer der Wohnungen dürfen die BesucherInnen den Gesängen eines sibirischen Schamanen lauschen. Auf Detailrealismus und strenge Einhaltung des illusionistischen Settings hat man bei dieser Zeitreise in den Sowjetstaat, anders als bei den Dreharbeiten, augenscheinlich verzichtet. Im Kommunalka-Wohnzimmer sitzen nachmittags gelangweilt die Künstler und Künstlerinnen mit ihren MacBooks auf den Diwans, über einer Stalinbüste thront ein Wlan-Router. Abends wird es geselliger, das Kunstpublikum findet sich zum Smalltalk ein.
Insgesamt erinnert der Rundgang durch die Sowjet-Appartements eher an die sogenannte Partizipationskunst eines Rirkrit Tiravanija als an die theatralen, und tatsächlich immersiven Installationen Ilya Kabakovs, der schon in den 1980er Jahren typische sowjetische Wohnungen im Museumsraum rekonstruierte. Was am Ende bleibt, ist das Gefühl, dass der immersive, partizipative und experimentelle Charakter der Installation von „DAU“ als bloße Zugabe zum eigentlichen Filmprojekt erscheint. Das vermeintliche Gesamtkunstwerk entpuppt sich als spektakulär inszenierte kulturindustrielle Veranstaltung – mit fragwürdigen Methoden.