XMAS SOUNDTRACK
Müde von diesem Jahr? Mit dem SCHIRN Xmas Soundtrack könnt ihr es Euch gemütlich machen, auch ohne Wham! und Mariah.
Von Markus Farr (Text), Felix Kosok (Bild)Zum Jahresende widmet sich die SCHIRN einer musikalischen Expedition in die eigenen vier Wände – mit Musikerinnen und Musikern, die in den letzten 60 Jahren die kalte Jahreszeit zur melancholischen Selbstreflektion oder einem Aufbruch zu neuen Ufern genutzt haben. Dabei sind in ihren heimischen Schlafzimmer-Studios Songs entstanden, die es angesichts des bevorstehenden Weihnachts- und Neujahrsfestes nicht nur bei den üblichen guten Vorsätzen belassen.
Vielmehr setzten sie den Wohlstand und Frieden unserer westlichen Welt jenseits aller „Do They Know It’s Christmas Time?“-Klischees kritisch in einen globalen Kontext: Während sich die einen in eskapistische Tagträume und auf Traumreisen wünschen, beamen sich andere via launiger Coverversion in vermeintlich bessere Zeiten zurück.
Verbindungen von Soul, Protestsong und schonungslosem Minimalismus
So berief sich bereits das Kingston Trio Ende der 1950er-Jahre auf christliche Musiktraditionen und trat damit nicht nur das US-Folk-Revival los, sondern hatte auch großen Einfluss etwa auf Simon & Garfunkel, die zehn Jahre später den Weihnachtsklassiker „Stille Nacht“ mit einer Nachrichtensendung zu Zeiten des Vietnamkrieges konfrontierten. Ebenso thematisierten einige Soul- und R’n’B-Acts dieser Zeit – wie Othello Robertson – den Wunsch nach einer Heimkehr der Soldatinnen und Soldaten aus den Kriegsgebieten.
Vor wenigen Jahren wiederum verbindet die schwedische Sängerin Neneh Cherry hypermodernem Soul und Protestsong, wie der von Massive Attack produzierte Track „Kong“ vom formidablen 2018er-Album „Broken Politics“ zeigt. Ähnlich schonungslos wie autobiographisch gehen Tocotronic auf ihrem aktuellen Album „Die Unendlichkeit“ vor, wenn sie im Song „Unwiederbringlich“ den frühen Tod eines Freundes in den 1990er-Jahren stilistisch mit dem minimalistischen Schulwerk des Komponisten Carl Orff kombinieren. Und viele erinnern sich heute noch, wo sie am 16. August 2018 waren, als die Todesmeldung von Aretha Franklin um die Welt ging, die hier mit einem unnachahmlichen Beatles-Cover von „The Fool on the Hill“ vertreten ist.
Neuaufnahmen und Coverversionen zum Jahreswechsel
Um das traurige Schicksal eines Freundes dreht sich auch „Happy Birthday Johnny“ der US-amerikanischen Sängerin St. Vincent, die ihr poppiges Synthie-Album „Masseduction“ zum Ende des Jahres nochmal mit intimer Pianobegleitung aufgenommen hat. Ebenso akustisch entschlackt und umgedeutet hat der britische Musiker Richard Hawley seinen Song „Tonight the Streets Are Ours“, der die Banksy-Dokumentation „Exit Throught the Gift Shop“ eröffnete. Auch die weiteren Coverversionen sind von einer Schwere und Melancholie erfüllt, die viele zum Jahresende befällt.
So überführt die aus dem Diablo-Cody-Film „Tully“ stammende Beulahbelle-Coverversion der James-Bond-Hymne “You Only Live Twice“ die Agentenlosung auf die alltäglichen Automatismen einer jungen Mutter, während die Kölner Band Locas in Love den ohnehin schon langsam dahinfließenden Titelsong der TV-Serie „Twin Peaks“ fast gänzlich entschleunigt. Die Deutsch-Britin Anika schickt das The Kinks-Stück „I Go To Sleep“ in tiefste Dub-Gefilde, während das US-Indie-Projekt Wild Nothing Kate Bushs „Cloudbusting“ mit einer eisigen Dream Pop-Schicht überzieht. Andere finden die Wärme in der Vergangenheit, etwa wenn die US-Sängerin Nicole Atkins mit „A Night of Serious Drinking“ den überbordenden Big Band-Sound der 50er reimaginiert oder der Twang-Gitarrist Joel Peterson den Standard „I'll Be Home For Christmas“ im Retro-Sound veredelt.
Ladies and Gentlemen We Are Floating in Space.
Charlie Brown und die Peanuts fahren in den alten Zeichentrickfilmen Schlittschuh zu Vince Guaraldis „Skating“, während Sun Kil Moon-Sänger Mark Kozelek ganz unironisch gleich ein ganzes Album mit Weihnachtsklassikern in seiner charakteristisch disparaten Stimme aufgenommen hat.
Die kalte Jahreszeit ist kein Grund für kreativen Stillstand
Andere flüchten sich gänzlich weg von dieser Erde – in Traumwelten wie die australische Sängerin Sarah Blasko mit ihrer Neuauflage des Olivia Newton John-Songs „Xanadu“ (der nicht von ungefähr auf den fiktiven Rückzugsort des Titelhelden von Orson Welles „Citizen Kane“ anspielt) – oder gleich in die unendlichen Weiten des Weltalls wie Spiritualized mit „Ladies and Gentlemen We Are Floating in Space“. Zum anderen zeigt die Berliner Band Die Heiterkeit mit „Die Kälte“ wie man die frostige Jahreszeit auch umarmen kann, Franz Ferdinand suchen mit „Leaving My Old Life Behind“, einem Song des obskuren Songwriters Jonathan Halper aus einem Film von Kenneth Anger, den Neuanfang, und die britische Neo-Psychedelic-Band Broadcast formulierte auf ihrem Debütalbum die universellste aller Aufforderungen: „Come On Let’s Go“.
Oder die Flaming Lips, die in einem frühen Cover Frank Sinatras Lebensresümee „It Was A Very Good Year“ mit Lo-Fi-Mitteln auf den Boden der Tatsachen zurückholen und damit die Bühne für Yoko Ono bereiten, die kürzlich mit 85 Jahren ein neues Album herausgebracht hat, auf dem sie erstmals überhaupt den John Lennon-Klassiker „Imagine“ mit hörbar brüchiger Stimme vorträgt – als Utopie, die das eigene Leben überdauert. Wie man sieht, muss die kalte Jahreszeit kein Grund zum kreativen Stillstand sein, sondern hat zahlreiche Musikerinnen und Musikern immer wieder neu inspiriert und zu vielseitigen Kreationen jenseits der üblichen Weihnachtsklassiker bewegt.