Abe Frajndlich blickt auf eine über 50 Jahre lange Karriere als Fotograf zurück. Im Interview spricht er unter anderem über sein neuestes Projekt – ein Buch, das all die Künstlerinnen, Kuratorinnen und anderen Frauen aus der Kulturbranche würdigt, mit denen er im Laufe der Zeit zusammengearbeitet hat.
Der Fotograf Abe Frajndlich hat im Laufe seiner Arbeit unzählige Menschen porträtiert, nicht zuletzt – wie hier zu sehen – sich selbst.
Frajndlich lebt seit Jahrzehnten in den USA. Zu Frankfurt hat er trotzdem einen herausgehobenen Bezug: 1946 wurde Abraham Samuel Frajndlich in einem Displaced Persons-Lager als Sohn jüdisch-polnischer Eltern in Zeilsheim geboren, nicht einmal zehn Kilometer vor den Toren der Stadt. Es war eine bewusste Entscheidung, sich von der Vergangenheit nicht bestimmen zu lassen, erklärte er. Später, als er längst in Amerika eine neue Heimat gefunden hatte, fotografierte Abe Frajndlich regelmäßig für das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Seinen jiddischen Nachnamen hatte er ursprünglich mal, wie einige US-Kollegen in der kreativen Welt (Philipp Guston, Frank Gehry), der Karriere wegen ablegen wollen – doch dann hatte sich der schon etabliert. „Geschadet hat es mir offenbar nicht,“ meinte Frajndlich mit seinem typisch trockenen Humor. Zum ersten Mal unterhalten haben wir uns im letzten Jahr, als er im Fotografie Forum Frankfurt eine große Retrospektive eröffnete. Schon damals ging es um die zwiespältige Freude, auf das eigene Werk zurückblicken zu können. Einerseits eine willkommene Gelegenheit der Selbstvergewisserung, andererseits ist die eigene Arbeit ja niemals abgeschlossen. Jetzt sprechen wir also ein zweites Mal, diesmal via Zoom.
Erinnerst du dich an das erste Kunstwerk, das dich umgehauen hat – vielleicht eines, das den Wunsch, selbst Künstler zu werden, geweckt hat?
Abe: Es gibt eine Geschichte, die ich in meinem Buch „Seventy Five at Seventy Five“ erzähle. Ich war an der Uni, ganz in der Nähe des Chicago Art Institute, und habe Literatur studiert. Es war etwa in meinem letzten Semester, Sommer 1968. Ich war mit den meisten Veranstaltungen durch und hatte noch ein Seminar belegt. Unser Dozent gab uns die Aufgabe: „Geht zum Art Institute und sucht euch ein Kunstwerk heraus, das zu euch spricht.“ Also bin ich dort herumgelaufen – es ist ein tolles Museum, das Kunst aus allen Jahrhunderten umfasst – und bin auf „Adam“ von Rodin gestoßen. Eine ziemlich große Skulptur, sicher über drei Meter hoch. Es gibt ja diese bekannte Stelle: „…and god took mud and made man“, so in etwa…
In Genesis 2.7, wo der Mensch aus dem Staub beziehungsweise der Erde gemacht wird…
Abe: Rodin hat diese Vorstellung nun genommen und ein Ebenbild aus Bronze geformt, die ja wieder aus der Erde kommt, also Schlamm war, und hat Adam geschaffen. Als ich so Adams Füße betrachtete, wurde mir klar: Hier ist ein Künstler, der etwas völlig Unbelebtes nimmt und ihm Leben einhaucht – auf eine Art wie ein Gott. In dem Moment formte sich in mir der Gedanke: Was immer dieser Mann da tut, in irgendeiner seltsamen Weise möchte ich daran teilnehmen. Ich wusste noch nicht, wie sich das genau manifestieren würde. Aber ich schrieb darüber einen Aufsatz, was dieses Werk in mir auslöst. Das war 1969. 2012 hat mir eine der damaligen Lehrassistentinnen einen Brief geschrieben, sie habe diesen Aufsatz nie vergessen, und immer, wenn sie im Internet sehe, dass ich nun tatsächlich künstlerisch tätig sei, müsse sie wieder an diesen Text denken. So habe ich noch einmal realisiert, dass das dieser „Genesis-Moment“ für mich gewesen sein muss. Wenn ich später Fotos gemacht habe, hat mich das immer wieder mit dieser Erfahrung verbunden. Ein tiefes Begreifen, nicht auf intellektuelle, aber auf körperliche Weise. Das war also das erste Kunstwerk, das wirklich zu mir gesprochen hat.
Hast du es dir seitdem noch einmal angesehen? Hat es sich für dich seitdem verändert?
Abe: Oh ja, es gibt einige Versionen von Rodins „Adam“. Ich habe die Skulptur in Paris gesehen, auch hier in Cleveland nochmal. Aber das Merkwürdige mit diesen initialen Momenten, ähnlich wie beim Liebemachen, ist ja: Es ist nie wieder genau so. Denn du entdeckst ja eine ganze Welt. Alle Sinne sind völlig offen. Wenn du es schon kennst, kannst du es natürlich nie wieder so sehen. Wenn ich Bilder mache, dann versuche ich, diesen Moment immer wieder aufs Neue zu haben. Ich tue das aus einer Notwendigkeit heraus, wach zu bleiben. In meinem jungen Kopf zu bleiben. Auf die Welt zu blicken wie ein Dreijähriger.
Bei unserem letzten Gespräch kamen wir irgendwann auf die Losung: Fotografie ist immer jetzt…
Abe: Ja, absolut. Fotografie ist immer jetzt. Denn das Bedürfnis und der Moment, aus dem heraus die Aufnahme entsteht, werden nie wieder dieselben sein. Das Licht, die Umstände. Alles ist einmal. Und das ist meiner Meinung nach die Schönheit von Fotografie: Sie zwingt dich dazu, im Jetzt zu sein. Ich werde immer wieder gefragt, was mein Lieblingsbild sei, und meine Antwort darauf ist immer gleich: Das Bild, das ich morgen machen werde. Und heute, da ich ein wirklich alter Mann bin – im Vergleich jedenfalls zu einem 32-jährigen -, wird das wichtiger denn je. Im Jetzt zu leben, und nicht in der Vergangenheit. Ich bin immer noch wahnsinnig begeistert von meinem Medium.
Gibt es in diesem immer wieder Neuen eine Kontinuität, etwas, das du immer so gehandhabt hast – vom ersten Bild bis heute?
Abe: Ich denke, was Fotograf*innen am Laufen hält, nicht nur mich, ist dieses hohe Level an Neugierde. Wir gehen durch die Welt wie das kleine Kind, das immerzu fragt: Warum, warum, warum? Und die Kamera ist das perfekte Instrument, um diese Fragen zu stellen. Sie gibt dir nicht immer Antworten. Aber sie ist perfekt, um weiter zu fragen. Was ist es überhaupt, nach dem wir schauen, und wie kannst du innerhalb der Begrenzung dieses kleinen Theaters, in das du schaust, etwas sagen – so, dass es auch zu anderen spricht? Das ist die Herausforderung.
If you can see, you can see. Kunst ist etwas, das du nicht lernen kannst. Du kannst bestimmte Techniken lernen, aber der wirkliche Akt, das kreative Sehen hat man oder nicht. Ich bin nie zur Kunstakademie gegangen, habe nie Fotografie gelernt. Langsam, erst in letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass ich dieses Sehen wohl haben muss.
Gab es diesen Moment, in dem du eines deiner eigenen Werke betrachtet hast und dachtest „Das ist wirklich gut jetzt, das ist Kunst“?
Abe: Es benötigt viel Zeit. Anfangs, wenn du fotografierst, machst du nur Bilder. Später, wenn du zurückblickst, sie zusammenstellst – wenn du das für 15, 20 Jahre machst, dann siehst du vielleicht irgendwann, dass einiges von dem, was du gemacht hast, damals in Richtung Kunst steuerte. Aber die Sache mit all diesen Dingen ist: Wenn du sie über deinen eigenen Kram sagst, wird es Bullshit. Du kannst nicht sagen „Das ist Kunst“ oder „Ich mache Kunst“. Das ist pretending. Und ich möchte nicht so tun, als ob, denn ich schätze das, was ich tue, viel zu sehr. Das müssen andere beurteilen – oft passiert das eben erst mit der Zeit. Ich weiß, dass Rodin Kunst macht. Ich weiß nicht, ob Frajndlich Kunst macht. Frajndlich macht Fotos.
Du hast in über 50 Jahren unzählige Menschen fotografiert, aber auch Menschen auf der Straße. Seitdem hat die Fotografie radikale Umwälzungen erfahren. Bemerkst du diese Veränderungen in deiner täglichen Arbeit?
Abe: Ja, es hat sich sehr viel verändert, allein durch den Umstand, dass jede*r heutzutage diese hier hat [zeigt auf sein Smartphone], und die sind wirklich hoch entwickelte Instrumente. Das Startniveau damals war ein ganz anderes. Wenn du also ein Foto machen wolltest, konntest du irgendwann Kleinbildfilme in der Drogerie entwickeln lassen oder vielleicht noch Instant-Kameras verwenden. In eine Dunkelkammer gehen. Es war natürlich eine ganz andere Zeit. Als ich damals zum Beispiel für die F.A.Z. fotografiert habe, sagte man mir: Wenn jemand das Magazin aufschlägt, hat er vielleicht eine Viertelsekunde auf diese Bilder geschaut. Du musst Bilder schaffen, mit denen sie zumindest eine Sekunde verbringen. Wenn Leute heute Bilder auf Instagram oder wo auch immer anschauen, dann liegt die Aufmerksamkeitsspanne bei maximal einem Zehntel einer Sekunde. Jeden Tag werden ja Milliarden Bilder weltweit produziert. Anstatt sich Briefe zu schreiben, stellt man sich vor eine Kamera und teilt dieses Bild in dem Moment miteinander. Level und Geschwindigkeit der aufgenommenen Bilder heute sind nicht vergleichbar. Dadurch sinkt die Aufmerksamkeit, die man dem einzelnen Bild schenkt – das Senden von Bildern wird selbst zur Kommunikation, aber du weißt nicht, ob der Absender dieses Bild nicht gleichzeitig noch mit fünf anderen Leuten teilt.
Kommen wir zu Vorhaben und Plänen: Du arbeitest gerade an deinem Buch „Women in the arts“.
Abe: Oh ja! Und es sind wirklich alle dabei, von einem Bild, das ich ganz am Anfang gemacht habe, Jane Fonda, 1970, noch bevor ich mit Minor White gearbeitet habe, über Louise Bourgeois, Yoko Ono, Eileen Ford, Cindy Sherman, Leni Riefenstahl, Barbara Sukowa, Isabel Allende, Leonora Carrington…es sind über 100 Porträts, und über jede von ihnen wird es einen eigenen Text geben.
Mein Lieblingsbild ist immer morgen
Dein Bild von Leni Riefenstahl, die mit Nazi-Propagandafilmen berühmt wurde und später im Kunstbetrieb als Fotografin relativ widerspruchsfrei anknüpfen konnte, fällt deutlich heraus: Sie erscheint beinahe wie ein Geist. Wie kam es zu dem Porträt?
Abe: Das war auf der Frankfurter Buchmesse 2000. Der Taschen Verlag hatte gerade „Leni Riefenstahl: Five Lives“ herausgebracht, und Teil der Werbekampagne war ein riesiges Porträt einer jungen, 27-jährigen Leni Riefenstahl. Das war so drei Meter hoch. Ich stand dort mit mehreren Fotografen herum, der Film in meiner Kamera war ein Kodak Plus-X mit einer ASA 125, also eher langsam, und ich war gezwungen, mein Foto mit einer Viertel- oder Achtelsekunde aufzunehmen. So gibt es diesen „geist-artigen“ Eindruck der dann 98-jährigen Leni. Sie war natürlich mit der Adolf Hitler-Zeit verbunden und hat Nazi-Propaganda produziert. Aber mein Interesse lag darin, dass sie über viele Jahrzehnte bemerkenswerte Fotografien in vielen Genres gemacht hatte und eine wichtige Bildermacherin des 20. Jahrhunderts war. Und, weil sie zu diesem Zeitpunkt gerade vor meiner Kamera stand.
Warum überhaupt „Frauen in der Kunst“, gerade jetzt?
Abe: Nun, „Jede*r in der Kunst“ wäre wohl zu breit gefasst…Ich hatte so viele Frauen fotografiert, die einen erheblichen Einfluss auf die kulturelle Welt hatten, in der wir heute leben. Ich dachte einfach, die Zeit ist reif, denn im Löwenanteil der Kunstgeschichte wurden Frauen immer ignoriert. Es sind nicht allein Fotografinnen, sondern Designerinnen, Filmemacherinnen, Schriftstellerinnen, Athletinnen…
…und Kuratorinnen.
Abe: Richtig, vor kurzem habe ich Barbara Tannenbaum fotografiert, die Chefkuratorin Fotografie am Cleveland Museum of Art, vor einer Version des berühmten Picasso-Gemäldes von Gertrude Stein. Ich musste sie aber erst davon überzeugen: dass, ob Barbaras Bedeutung für die Fotografie-Community heute, Gertrude eine angemessene Autorin wäre, um sich vor ihr porträtieren zu lassen. Jedenfalls sagte Gertrude damals angesichts ihres Porträts: „Das bin nicht ich.“ Und Picasso sagte: „Aber es wird Du werden.“ Er hatte diese Vision. Darum geht es meiner Meinung nach auch in der Fotografie.