Folge 4 des vierteiligen 069 x THE CULTURE Specials: Rapper, Lehrer und Autor – Murat Güngör hat sich im Laufe seines Lebens immer wieder neu erfunden. Im Oktober erscheint mit „Remix Almanya“ ein neues Buch von ihm.

Die Zeiger der quadratischen Bahnhofsuhr über unseren Köpfen gehen falsch und auch sonst wirkt es ein bisschen so, als sei die Zeit stehengeblieben: Das Ambiente der B-Ebene der U-Bahn-Station Höhenstraße hat definitiv Retro-Charme. Mit Murat Güngör, der gleich um die Ecke wohnt, sind wir hier vor einem Kunstwerk mit dem Titel „Unendlichkeitssimulator“ verabredet. Volker Bussmann hat es 1980 geschaffen. Die Installation besteht aus Neonröhren und Spiegeln und würde sich auch in einem Club gut machen. Kein Wunder, dass sie bis heute gerne als Hintergrund für Tanz-Performances genutzt wird – wie es zum Beispiel Videos auf TikTok beweisen. „Früher hat sich auf dem Platz direkt davor die Breakdance-Szene getroffen“, erzählt Güngör. „Wenn die Hauptwache die Bühne war, dann war das hier der Proberaum.“ Mitte der Achtziger hat er auch mal Breakdance gemacht. Aber nur kurz.

Murat Güngör, Foto: Neven Allgeier

In seiner Leinentasche hat Güngör Schallplatten für uns mitgebracht. Er ist Pionier der in Deutschland entstandenen türkischsprachigen Rap-Musik und Mit-Autor eines Buches zur Hip-Hop-Geschichte. Aktuell ist er Dozent in der Lehrerausbildung an der Goethe-Uni. Jahrelang hat er selbst als Lehrer gearbeitet. „Schüler*innen wollten manchmal von mir wissen: Herr Güngör, warum sind sie nicht Rapper geblieben? Meine Antwort war immer: Lehrer ist doch auch ein cooler Job!“

Türkischer Rap als Akt des Empowerments

Auf Türkisch zu rappen sei für ihn Anfang der Neunziger auch ein Akt des Empowerments gewesen, erzählt Güngör. „Kurz bevor wir anfingen Musik zu machen, hatte es in Deutschland einige rassistische Anschläge gegeben. Die Vision von einer multikulturellen Gesellschaft begann sich aufzulösen. Die Wut und Enttäuschung darüber haben wir in unseren Texten verarbeitet.“ Die Platten, die er mit DJ Mahmut, Volkan T. und KMR aufnahm, wurden auf dem eigenen Label Looptown veröffentlicht. In den Neunzigern hatten es migrantische Stimmen schwer, im Mainstream Gehör zu finden. Gefragt war eine massentaugliche, eher unpolitische Version von Rap, wie sie die Fantastischen Vier etabliert hatten. „Das war nicht unser Verständnis von Hip-Hop. Wir wollten unabhängig sein – nicht marktkonform und produktförmig.“

Foto: Neven Allgeier
Foto: Neven Allgeier
Foto: Neven Allgeier

Er sei kein Stratege und habe für sein Leben nie einen Masterplan gehabt, sagt Güngör. „Manchmal bin ich einfach in Dinge hineingestolpert und hatte das Glück, mich immer wieder neu erfinden zu können.“ Zwei Jahre lang arbeitete er für EFA Medien, einen Independent-Vertrieb, der seinen Sitz in Bornheim hatte. Unter dem Dach des Hauses gründete er das kleine Label 3-Finger-Records und brachte Musik von Hip-Hop-Acts wie den FFMCs heraus. 1997 war Güngör nach Bornheim gezogen. Im selben Jahr begann er Kulturanthropologie, Politik und Soziologie zu studieren. Seine Abschlussarbeit schrieb er über das Thema „Kulturelle Artikulation von Migranten am Beispiel von Hip-Hop.“ Später studierte er noch einmal auf Lehramt. Dazwischen lebte er in Köln und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum für Migration in Deutschland –, wo er bei einem Ausstellungprojekt zur Einwanderungsgeschichte mitwirkte. „Ich bin selbst das Kind von Eltern, die in den Siebzigern als ungelernte Arbeitskräfte nach Deutschland emigriert sind. Das ist Teil meiner Identität.“

Foto: Neven Allgeier

Wir sind inzwischen im Nieselregen über die Berger Straße in Richtung Merianplatz gelaufen und haben es uns im Café Kante gemütlich gemacht – nach einem kurzen Abstecher zum Jugendhaus am Heideplatz, an dessen Fassade wir ein Graffiti des Frankfurter Sprayers Bomber bewunderten. „Jugendzentren sind die Wiege der Hip-Hop-Kultur in Deutschland“, sagt Güngör. „An diesen Orten gab es Übungsräume für Musiker*innen, oft auch ein Tonstudio und es wurden Jams veranstaltet. Ihre Bedeutung kann man kaum überschätzen."

Remix Almanya – eine postmigrantische HipHop-Geschichte

Diesen Oktober wird im Hannibal Verlag das mittlerweile zweite Buch erscheinen, das Güngör zusammen mit dem Kölner Autor und Musiker Hannes Loh geschrieben hat. Der Titel: „Remix Almanya – eine postmigrantische Hip-Hop-Geschichte.“ Für das Buch haben Güngör und Loh nicht nur Musiker*innen, sondern auch Blogger*innen, Journalist*innen, Soziolog*innen und Literat*innen interviewt. „Wir erweitern das Feld und schauen nicht nur auf Hip-Hop, sondern auch darauf, wie Migration das Land verändert hat.“ Neben Interviews enthält das Buch Essays, Songbeispiele und andere Versatzstücke. „Es ist ein stilübergreifendes Werk.“

Jugend­zen­tren sind die Wiege der Hip-Hop-Kultur in Deutsch­land.

Murat Güngör

Güngör ist es wichtig, die Geschichte des Genres nicht als geradlinige Erfolgsstory zu erzählen, sondern als eine Geschichte mit vielen Brüchen, bei der es immer auch um das Streben nach Zugehörigkeit und die Erfahrung von Ausgrenzung geht. „Es waren immer auch Veränderungen in der Gesellschaft – zum Beispiel die Wiedervereinigung Ende der Neunziger – die eine Rückkopplung auf die Hip-Hop-Szene hatten. Das wollen wir zeigen." Güngör und Loh haben den Anspruch, Hip-Hop aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive heraus zu verstehen. Wie einst Güngör arbeitet auch Loh als Lehrer und ist ehemaliger Rapper. Die beiden sind nicht nur kundige Erklärer, sondern auch Entertainer. Das beweisen sie mit ihren Lecture Performances zu „Remix Almanya“, mit denen sie bundesweit unterwegs sind. Dabei handelt es sich nicht um klassische Lesungen, sondern um Performances mit Filmen, Fotos und Soundbeispielen.

Güngör und Loh lernten sich bei einem Konzert in der Frankfurter Nordweststadt kennen. Seit über 25 Jahren sind sie miteinander befreundet. Regelmäßig arbeiten sie zusammen. Güngör erzählt von einem Abend zu Ehren des Liedermachers Metin Türköz, den die beiden Ende 2023 in Köln veranstaltet haben. Der ein Jahr zuvor verstorbene Türköz gehörte zur ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter und arbeitete hauptberuflich als Schlosser bei Ford. Er war kein Rapper, entwickelte aber schon in den Siebzigern einen Sprachstil, wie ihn sehr viel später etwa Celo und Abdi auf die Spitze trieben. „Wie Haftbefehl oder Celo und Abdi hat er unterschiedliche Sprachen auf kreative Weise ineinanderfließen lassen – in seinem Fall waren das Deutsch und Türkisch.“ Bei den heutigen Rapper*innen gibt es oft eine große Geschichtsvergessenheit, findet Güngör. Er und Loh wollen das ändern. „Wir halten unsere Taschenlampen hin und versuchen, Bezüge herzustellen.“

Foto: Neven Allgeier

Es waren immer auch Verän­de­run­gen in der Gesell­schaft – zum Beispiel die Wieder­ver­ei­ni­gung Ende der Neun­zi­ger – die eine Rück­kopp­lung auf die Hip-Hop-Szene hatten.

Murat Güngör

Murat Güngör und Hannes Loh

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