Besondere Umstände erfordern besondere Formate: Sonst steht Fotograf Neven Allgeier bei 069 hinter der Kamera. Dieses Mal stellt Autor Markus Wölfelschneider ihn höchstpersönlich vor.
„Lustig, dass Du heute zur Abwechslung einmal mich interviewst!“ Neven Allgeier sitzt an einem improvisierten Arbeitsplatz im Frankfurter Apartment seiner Freundin, in das sich die beiden während der ersten Wochen der Corona-Kontaktsperre zurückgezogen haben. Seine rechte Hand steckt in einer Schiene. Durch die Arbeit hinter der Kamera und am Computer ist sie ein wenig überlastet. „Ich soll sie schonen und habe dazu im Moment ja auch reichlich Gelegenheit“, sagt er beim Videochat via Skype.
Normalerweise treffen Neven und ich uns einmal im Monat in den Ateliers, Studios oder Büros von Künstlern und Kreativen, die uns einen Einblick in ihre Arbeit gewähren. Er kümmert sich um die Fotos, ich um den Text. Das ist auch bei dieser Ausgabe von „069“ nicht anders – bloß, dass Neven jetzt selbst im Mittelpunkt steht. Wegen Corona liegen die meisten seiner Projekte gerade auf Eis.
Die meisten seiner Projekte liegen gerade auf Eis
Arbeitsreisen nach Wien und Moskau, die im Mai geplant waren, müssen vermutlich ausfallen. Eine von der österreichischen Band Bilderbuch im Wiener Museumsquartier kuratierte Ausstellung, in der Fotos von ihm zu sehen sind, pausiert gerade. Mit den Musikern, die von Fans und Feuilleton als Erneuerer des Austro-Pop gefeiert werden, arbeitet Neven seit anderthalb Jahren eng zusammen. Er fotografierte das Cover zum Album „Mea Culpa“. Außerdem begleitete er die Band auf Tour und zum Videodreh nach Dubai.
In Moskau wollte Neven eigentlich ein Projekt weiterführen, das er im vergangenen Herbst begonnen hat: Eine Reihe von Porträts über junge Erwachsene, deren Mode- und Lebensstil mit den gesellschaftlichen Normen kollidiert. „Es interessiert mich, wie sie innerhalb des komplizierten politischen Systems, das dort herrscht, Wege finden, um sich auszuleben“, erzählt er. Es war nicht sein erster Besuch in der russischen Hauptstadt. Vor sieben Jahren brachte Neven den Dackelwelpen Taxa von einer Moskau-Reise mit nach Hause. Zurzeit freut sich die Hündin über den Auslauf im Garten von Nevens Eltern.
Neven wuchs in Wiesbaden auf. Schon früh begann er damit, zu malen und zu zeichnen. „Mit Anfang 20 kam dann ergänzend die Fotografie hinzu und hat bald die Oberhand gewonnen. Malerei – zum Beispiel der europäische Expressionismus – ist für mich oft eine größere Quelle der Inspiration als die Arbeiten anderer Fotografinnen und Fotografen.“ Er gibt aber durchaus zu, einer Generation anzugehören, für die eine Gruppe von Fotografen, die in den Neunzigern mit der gängigen Mode- und Porträt-Fotografie brachen, prägend war: „Sie haben eine Alternativästhetik angeboten. Wenn man um das Jahr 2000 herum ein Modemagazin aufgeschlagen hat, sah man fast nur glatt retuschierte Personen. Dazwischen sind beispielsweise die Fotos von Collier Schorr und Jürgen Teller positiv aufgefallen.“
Als er ein paar Jahre nach Abschluss seines Studiums nach Frankfurt zog, traf Neven dort viele Freunde und Kommilitonen wieder, mit denen er sich regelmäßig zum Mittagessen oder Kaffeetrinken verabredete. „Irgendwann haben wir beschlossen, in ein gemeinsames Büro zu ziehen“, erinnert er sich. „Das war ganz einfach der nächste logische Schritt.“ Jedem der sieben Mieter, alles Fotografen und Designer, reicht ein einfacher Schreibtischarbeitsplatz. „Niemand von uns braucht ein richtiges Studio, weil wir ohnehin ständig reisen und es gewohnt sind, heute hier und morgen da zu arbeiten“, sagt Neven. Das Gemeinschaftsbüro befindet sich in den Erdgeschossräumen eines ehemaligen Segway-Verleihs. Das Eckhaus steht praktischerweise in jener Straße, in der er auch wohnt. Ein befreundetes Fotografenpärchen lebt gleich um die Ecke. „Dafür, dass die Straße so kurz ist, haben wir hier eine bemerkenswert hohe Fotografendichte.“
Bei seinen Fotos handelt es sich oft um Porträts junger – meist bildender – Künstler. Manchmal fotografiert er auch Musiker, von denen viele (wie Bilderbuch) mit einem Bein in der Kunstszene stehen. Seine Arbeiten erscheinen zum Beispiel in (Online)magazinen, wie „KubaParis“, „Sleek“, „DIS“ und „Wonderland“.
Regelmäßig fotografiert Neven auch Mode. Für ein Frankfurt-Spezial des ZEITmagazins lichtete er glamouröse Schuhe, Ketten und Sonnenbrillen in der Kulisse des expressionistischen Peter-Behrens-Bau auf dem Gelände des Industrieparks Höchst ab. „Das war ein Auftrag, der mir wirklich am Herzen lag, weil es nur noch sehr wenige gut erhaltene Gebäude aus dieser Epoche in Deutschland gibt.“ Hin und wieder sieht man auf Nevens Bildern auch Personen von popkultureller Relevanz: Den Rapper Shindy hat er zum Beispiel für das „BOA“-Magazin des FC-Bayern-Stars Jérôme Boateng abgelichtet, wie er an der Tanke lässig auf einer Gefriertruhe sitzt. Für die Rubrik „Ich habe einen Traum“, die Teil des ZEITmagazins ist, fotografierte er die britische Sängerin Dua Lipa mit geschlossenen Augen auf einem Sofa liegend.
Oft ist Neven mit eher leichtem Gepäck unterwegs. Mit seiner Spiegelreflexkamera und dem kleinen Blitz kann er schnell und wendig an jedem Ort agieren und muss nicht viel Zeit darauf verwenden, mit viel Equipment ein kompliziertes Setting aufzubauen. Lieber nutzt er die Zeit, um die Menschen vor seiner Kamera näher kennen zu lernen. Obwohl Neven seine Bilder kunstvoll komponiert, scheinen die abgebildeten Personen ganz bei sich selbst zu sein – und nicht etwa Teil einer Inszenierung. „Man muss sich auf die Welt der Leute einlassen, die man porträtiert und möglichst viel Zeit in ihrem Kosmos verbringen.“
Das war ein Auftrag, der mir wirklich am Herzen lag.