Trotz zwei gewonnener Preise beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gibt sich der Frankfurter Autor und Lyriker Martin Piekar äußerst bodenständig. Ein Gespräch bei Apfelwein aus der Dose und wildem Plakatieren im Bahnhofsviertel.

Martin Piekar führt einen kleinen Stapel Aufkleber mit sich, die mit Versen aus seinem neuen Gedichtband „livestream & leichen“ bedruckt sind, der vor kurzem erschienen ist. „Hörst du die Vögel zwitschern & Bienen summen? – Ich auch nicht“, heißt es lapidar auf einem der Sticker. Wir sind im Yok Yok City-Kiosk im Bahnhofsviertel verabredet. Es ist ein brütend heißer Spätsommertag. „Die Temperaturen sind heute eklig“, sagt Piekar, der wie immer ganz in Schwarz gekleidet ist. „Lasst uns erst einmal etwas trinken!“

Er zieht eine Apfelweindose aus dem Kühlschrank und einen Aufkleber aus der Hosentasche. Die Dose stellt er auf einen Stehtisch in der Mitte des Raums. Den Sticker klebt er auf die große Panoramafensterscheibe. „Poetischer Vandalismus“ nennt Piekar das – wobei die Klebeaktion hier durchaus willkommen ist. Sein Sticker macht sich wirklich gut zwischen den unzähligen anderen Aufklebern auf der Scheibe, durch deren wenige freie Stellen man auf den Hauptbahnhof blickt, der sich direkt gegenüber befindet. Über den Bahnhof hat Piekar übrigens schon mal ein Gedicht geschrieben.

Foto: Neven Allgeier
Debütroman über eine seltsame Familiengeschichte

Aktuell arbeitet er an seinem ersten Roman. Ein Kapitel daraus mit dem Titel „Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk“ hat er beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gelesen – einem der bedeutendsten Literaturwettbewerbe im deutschsprachigen Raum. Mit seinem Text hat er den Publikumspreis und den Kelag-Preis gewonnen, die als ein wichtiger Teil des Wettbewerbs – beide zusammengenommen – mit 17.000 Euro dotiert sind.

„So ein Preis verändert sehr, sehr viel“, sagt Piekar. „Ich kann mir jetzt eine Agentin leisten, die mit mir zusammen an dem Text arbeitet. Er öffnet mir aber auch andere Türen: Mein Lyrikverleger hat mir gerade gesagt, dass von meinem neuesten Gedichtband nach einem Monat schon die halbe Auflage weg ist. Das ist dem Verlag so noch nie passiert. Der Bachmann-Preis ist ein Medienereignis. So sehr man diesen ganzen Rummel natürlich auch kritisieren kann, so wichtig ist mir, ehrlich gesagt, die Aufmerksamkeit, die ich nun bekomme.“

Foto: Neven Allgeier

Hörst du die Vögel zwitschern & Bienen summen? – Ich auch nicht.

Martin Piekar

Während seine drei Gedichtbände im Verlagshaus Berlin erschienen sind, einem kleinen Independent-Verlag, der auf Lyrik spezialisiert ist, soll sein Roman in einem renommierten Publikumsverlag erscheinen, das ist sein Wunsch. „Ich möchte, dass möglichst viele Leute ihn lesen.“

Es sei kein leichter Stoff, den man einfach so herunterschreiben könne, sagt Piekar. „Ich bin im Moment ziemlich am Puzzeln, um die richtige Struktur zu finden.“ Das Buch handelt von seiner komplizierten Familiengeschichte, die er teilweise nur aus den Erzählungen seiner Mutter kennt, die als Tochter eines SS-Majors und einer polnischen Armee-Ärztin in einem Gulag geboren wurde. In den Achtzigerjahren floh sie vor dem sozialistischen Regime aus der Volksrepublik Polen nach Deutschland. Dieses Jahr ist sie gestorben. Piekar hat sie bis zu ihrem Tod gepflegt. „Ich habe gemerkt, wie unglaublich seltsam meine Familiengeschichte ist. Aber nicht so seltsam, dass man keinen Zugang zu ihr findet.“ In dem bereits existierenden Kapitel erfährt man nebenbei einiges über Piekars Vorlieben als Jugendlicher: Computerspiele wie World of Warcraft und Heavy-Metal-Musik. „Ich bin Lyriker geworden, weil ich als Sänger zu schlecht bin“, erzählt er uns. Bei Lyrik gehe es schließlich um Rhythmus und Klang. Deshalb stehe sie der Musik auch näher als der Prosa.

Foto: Neven Allgeier

Der Bachmann-Preis ist ein Medienereignis. So sehr man diesen ganzen Rummel natürlich auch kritisieren kann, so wichtig ist mir, ehrlich gesagt, die Aufmerksamkeit, die ich nun bekomme.

Martin Piekar
Vor dem Roman war die Lyrik

„Meine ersten Gedichte waren entweder krass politisch ambitioniert oder aber es handelte sich um super-emotionale Liebes- und Sehnsuchtslyrik“, erinnert er sich. Zunächst wurden seine Werke in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. „Für junge Autorinnen und Autoren ist das ein wichtiger Schritt, um sich in der Szene zu verorten. Aus Sammelbänden erfährt man, was gerade ‚in‘ ist. Literaturzeitschriften sind ein sehr schnelles Medium. Schneller ist nur noch das Internet. Mein Eindruck ist aber, dass Lyrik dort keine große Rolle spielt. Mit einem Gedicht, das in einer Zeitschrift erscheint, erreiche ich viel mehr Leute als wenn ich es auf Instagram poste.“

Piekar hat Philosophie und Geschichte auf Lehramt studiert und arbeitet als Teilzeit-Lehrer an der Frankfurter Karl-Popper-Schule. Hin und wieder bietet er Kurse für Jugendliche und Erwachsene an, die er bodenständig „Schreibwerkstatt“ nennt. „Ich bin gegen den Irrglauben, dass ein literarisches Werk auf Anhieb gelingt und in Vollkommenheit erschaffen wird. Manchmal muss ich eben zwei Texte verhauen, damit ich den dritten dann hinkriege.“ Nach drei Lyrikbänden nun also der erste Roman. Warum dieser Schritt? Jeder Stoff suche sich die passende Form, erklärt Piekar. Er wehrt sich gegen die Vorstellung, dass der Gattungswechsel eine Weiterentwicklung sei, weil das bedeuten würde, dass der Roman in der literarischen Hierarchie auf einer höheren Stufe steht: „Als Lyriker wurde ich oft gefragt, wann ich meinen ersten Roman schreibe. Aber niemand würde auf die Idee kommen, jemanden der Prosa schreibt, zu fragen, wann sein erster Gedichtband erscheint. Das finde ich seltsam.“

Martin Piekar, Foto: Neven Allgeier

Wir haben inzwischen das Yok Yok verlassen und laufen durch das Bahnhofsviertel. Piekar streift gerne durch die Stadt: „Immer wenn ich emotional oder intellektuell überfordert bin, gehe ich spazieren. Einmal, um mich zu vergewissern, dass es die Welt noch gibt. Aber auch, um Menschen zu treffen, die mir neue Perspektiven aufzeigen.“ Auch sein Gedichtband „livestream & leichen“ ist als ausufernder Spaziergang durch eine Stadt angelegt, der morgens beginnt und abends endet. Unterwegs spielen sich – etwa auf einer Verkehrsinsel, vor einem Krankenhaus oder in einem Buchladen – Szenen ab, die oft düster und verstörend, dabei aber nie ohne Witz und Hoffnung sind.

Foto: Neven Allgeier

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