Shantel gilt als Pionier des Balkan-Pops und ist mit seinen blasmusiklastigen Tanzflächenkrachern seit über 20 Jahren fast ununterbrochen auf Tour: Wir haben ihn in seinem Frankfurter Studio getroffen, wo er an einem neuen Album arbeitet.
Shantel überrascht uns mit einem Bekenntnis: „Ich habe gar nicht gewusst, dass heute ein Feiertag ist. Ich hasse Feiertage. Schrecklich.“ Gut gelaunt wirkt er trotzdem. Er kommt mit dem E-Scooter angebraust und empfängt uns vor dem feiertagsbedingt verschlossenen Tor, das in den Hof der ehemaligen Bethmann-Bank führt. Der riesige Gebäudekomplex stand einige Jahre leer, bevor Florian Jöckel hier eine Art Kreativzentrum geschaffen hat. Zahlreiche Räume wurden an Kulturschaffende vermietet. Jöckel ist Shantels Manager und ein langjähriger Freund. Im Erdgeschoss betreibt er die Café-Bar Massif Central. Im dritten Stock unter dem Dach hat sich Shantel sein Studio eingerichtet. Vor einer kleinen Abstellkammer machen wir kurz halt. Shantel drückt uns zwei seiner Rickenbacker-Gitarren in die Hand, die wir nach oben tragen. Einen Moment lang sind wir also tatsächlich seine Roadies.
„Ich bin hier nur auf dem Sprung“, sagt Shantel, der mit seinem Bucovina Club Orkestar fast das ganze Jahr über auf Tour ist. Einen Tag nach unserem Treffen reist er mit dem Mercedes-Sprinter zu einem Festival Richtung Süddeutschland. Anschließend geht es zum Flughafen und ab nach Griechenland. In Frankfurt schaut er zwischendrin immer mal wieder vorbei. „Schon alleine, weil mein 16-jähriger Sohn hier lebt.“
Ein Pionier des Balkan-Pops
Gemessen an Shantels Bekanntheitsgrad wirkt sein Studio sympathisch bescheiden. Ein kleiner, lichtdurchfluteter Raum mit schrägen Wänden und – abgesehen von ein paar Käsekuchenflecken – rotem Teppichboden. Auf dem Tisch in der Mitte steht ein Laptop, der von allerlei analogem Equipment umringt ist: Verstärker, Synthesizer und Equalizer. Seinen Laptop nimmt Shantel immer mit auf Tour, damit er auch im Hotelzimmer an seiner Musik arbeiten kann. Anfang des nächsten Jahres soll ein neues Album mit dem Titel „Shantifa“ erscheinen.
Shantel, der mit bürgerlichem Namen Stefan Hantel heißt, gilt als Pionier des sogenannten Balkan-Pops. Ein Genre, das Anfang der Nullerjahre in Deutschland entstanden ist. Bevor er seinen blasmusiklastigen Trademarksound entwickelte, für den er heute bekannt ist, hatte er bereits eine erfolgreiche Karriere als Partymacher, DJ und Clubmusiker hinter sich. Zunächst aber studierte er Kommunikationsdesign. In der Firma seines Vaters, der Grafiker war und ein Studio in Bockenheim hatte, übernahm er kleinere Aufträge. „Ich habe immer schon in Bands gespielt, konnte mir aber nicht vorstellen, dass man davon leben kann“, erzählt Shantel, während er in einer Kiste mit Kabeln und Effektgeräten kramt. „Ich wollte lieber visuell arbeiten, das war mein Plan. Wo heute das Metropolis-Kino ist, gab es damals das ‚Volksbildungsheim‘, in dem super-geile World-Music-Konzerte stattfanden. Für diese Veranstaltungen habe ich zum Beispiel Plakate entworfen.“
Später wurde Shantel selbst als Veranstalter aktiv: In der Kaiserstraße 74 im Bahnhofsviertel eröffnete er 1987 das „Lissania“ – einen illegalen Club, in den Räumen eines ehemaligen Hostels. „Für meine Partys brauchte ich Tracks. So kam ich dazu, eigene Musik zu produzieren. Mit meinem eklektizistischen Sound habe ich mir meine Nische geschaffen. Es ging mir darum, einen tanzbaren, kosmopolitischen Sound zu kreieren, der zum damaligen Vibe der Stadt passte. Anfang der Neunziger hatte ich das Gefühl, Frankfurt könnte sich zu einer richtigen Weltmetropole entwickeln. Meine Musik war damals aber noch kein Balkan-Pop, sondern eher Downbeat und Trip-Hop.“ Mit seiner Musik habe Shantel schon immer zwischen allen Stühlen gesessen, so empfindet er es. Frankfurt galt damals als Techno-Stadt. „Techno war mir schon immer zu teutonisch.“
Neuerfindung und Labelgründung
Rund um den Planeten wurde Shantel für Live-Shows gebucht. „Bei einem Auftritt in Tel Aviv überkam mich das Bedürfnis, mich mit dem jüdischen Erbe meiner Familie auseinanderzusetzen.“ 2001 reiste er nach Czernowitz, eine Stadt in der Region Bukowina, die heute in der Ukraine liegt und früher zu Rumänien gehörte. Dort hatte seine Großmutter gelebt. Die Musik der Bukowina bildete den Soundtrack seiner Kindheit. Czernowitz war während der Habsburgermonarchie und in den Jahren danach eine Vielvölkerstadt und galt als Inbegriff funktionierender Multikulturalität. Den Kopf voll mit romantischen Vorstellungen über den Mythos Bukowina, so trat er seine Reise an.
„Die Stadt ist wunderschön, doch Krieg und Nationalismus haben die Kultur der Bukowina unwiederbringlich ausradiert“, erzählt Shantel. „Ich habe eine post-sowjetische Stadt erlebt, die um ihre Identität ringt.“ Bei seinem Besuch habe er eine gewisse Traurigkeit empfunden, die er dann mit Musik zu heilen versuchte. Mit dem Sound, der dabei entstand, hat Shantel sich komplett neu erfunden. „Kein Label wollte meine Musik herausbringen. Also habe ich mit ‚Essay Recordings‘ einfach selbst eines gegründet. Heute empfinde ich das als Glücksfall, weil ich dadurch eine ganz andere Einnahmensituation habe.“ Elektronische Beats treffen bei Shantel auf akustische Instrumente. „Die Herausforderung war, Blasmusik so aufzunehmen, dass sie laut abgespielt nicht unangenehm in den Ohren klingt. Bei akustischen Instrumenten passiert das sehr schnell, wenn man ihnen eine Dancefloor-Ästhetik verpasst. Ich wollte einen Blasmusiksound, der von der Energie einem Techno-Track ebenbürtig ist.“
Ich schaue lieber auf Gemeinsamkeiten als auf das, was uns trennt. Während einer Party oder eines Konzerts, versuche ich mit musikalischen Mitteln einen utopischen Ort zu erschaffen, an dem nationale Grenzen keine Rolle spielen.
Seinen Balkan-Pop nennt Shantel einen Diaspora-Sound. „Meine Musik setzt sich mit verschiedenen osteuropäischen aber auch orientalischen Traditionen auseinander, ohne dabei wirklich in einer dieser Regionen verwurzelt zu sein. Nimm zum Beispiel meinen größten Hit ‚Disko Partizani‘. Das ist ein Frankfurter Song. Der hätte nirgendwo sonst entstehen können.“ Obwohl Musik für Shantel immer auch ein Mittel war, um seine komplizierte Familiengeschichte zu erforschen, geht es ihm nicht so sehr um Identität. „Ich bin ein Anarcho-Kosmopolit. Ich schaue lieber auf Gemeinsamkeiten als auf das, was uns trennt. Während einer Party oder eines Konzerts, versuche ich mit musikalischen Mitteln einen utopischen Ort zu erschaffen, an dem nationale Grenzen keine Rolle spielen.“ Wie sich das anfühlt, kann man am 19. Juni ab 19 Uhr zur Eröffnung von SELMA SELMAN. FLOWERS OF LIFE in der SCHIRN erleben, wo Shantel im Anschluss an eine Live-Performance der Künstlerin mit einem DJ-Set auftritt.