Es war der erste literarische Text aus ihrer Feder – und er schaffte es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Die Frankfurter Autorin Anna Yeliz Schentke über ihren Debütroman „Kangal“, repressive Regime und Abkürzungen durchs Grüne.

Wir wandeln in gläsernen Gewächshäusern – vorbei an turmhohen Kakteen – durch tropische Klimazonen, bevor wir uns draußen auf einer Parkbank mit der deutschen Oktobersonne zufrieden geben. Aus einem künstlichen See steigen Wasserfontänen in den Himmel. Die Rauchsäulen über dem Würstchenstand, der am Rande einer Kieswegkreuzung steht, sind nicht ganz so hoch. Die Frankfurter Autorin Anna Yeliz Schentke hat uns den Palmengarten als Treffpunkt vorgeschlagen.

Foto: Neven Allgeier

Anna Yeliz Schentke, Kangal, 2022, Image via fischerverlage.de

Seit Beginn ihres Studiums nutzt sie den Park als Abkürzung. Es gibt keinen kürzeren Weg, der den alten und den neuen Campus miteinander verbindet. „Als Kind bin ich aber auch gerne an den Wochenenden hier gewesen.“ Inzwischen arbeitet Schentke als wissenschaftliche Assistentin an der Goethe-Uni, wo sie im Fach Literaturwissenschaft promoviert. Auch heute – einem Feiertag – hatte sie auf dem Campus zu tun: Im Studierendenhaus hat sie am Vormittag aus ihrem Debütroman „Kangal“ gelesen.

Aufbegehren gegen Totalitarismus 

Der Plot: Die Studentin Dillek hat im Internet unter dem Pseudonym „Kangal“ Kritik am türkischen Staat geübt und befürchtet nun, verhaftet zu werden. Sie kappt alle Verbindungen und flüchtet Hals über Kopf von Istanbul nach Frankfurt. Jede Kommunikation wird zum Risiko. Der schüchterne Mann, der mit ihr im Deutschkurs sitzt, könnte ein Verbündeter sein. Oder aber ein Spitzel. Ihre Cousine Ayla, die in Frankfurt lebt, war in der Kindheit wie eine Schwester für Dillek – steht aber unter dem Einfluss ihrer Eltern, die womöglich mit Erdogan sympathisieren. Kann Dillek ihr vertrauen?

Anna Yeliz Schentke, Foto: Neven Allgeier

Ich wollte wissen, wie Menschen damit umgehen, wenn das Sprechen schwierig wird, weil es gefährlich ist, den Mund aufzumachen

Anna Yeliz Schentke
Kommunikation als Risikofaktor

Es geht um Totalitarismus und was er mit den Menschen macht, die es wagen, dagegen aufzubegehren. „Ich wollte wissen, wie Menschen damit umgehen, wenn das Sprechen schwierig wird, weil es gefährlich ist, den Mund aufzumachen“, sagt Schentke. Der schmale Roman ist schnörkellos geschrieben und dank drei Hauptfiguren, deren Erzählstimmen sich kapitelweise abwechseln, kurzweilig und temporeich. Die Kritik war von dem Buch begeistert. Bis vor kurzem stand es auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. „Das war für mich eine große Überraschung, Wertschätzung und Ermutigung.“

Trotz des Erfolgs habe es „Kangal“ auf dem aktuellen Buchmarkt nicht leicht, sagt Schentke. „Mein Eindruck ist, dass in diesen unruhigen Zeiten – nach dem Angriffskrieg in der Ukraine – viele Menschen am liebsten zu leichter Lektüre greifen, um sich abzulenken. Damit kann ich leider nicht dienen.“

Foto: Neven Allgeier

Familien flanieren an uns vorbei. Der Palmengarten ist an diesem Feiertag gut besucht. „Stört es dich, wenn ich rauche?“, fragt Schentke, zündet sich eine Zigarette an und setzt ihre Sonnenbrille auf. Ihre Karriere als Schriftstellerin sei ein Zufall gewesen. 2019 besuchte sie einen Literaturworkshop an der Uni. „Der Anfang meines Romans ist dort entstanden. Das war der erste literarische Text, den ich jemals geschrieben habe.“ Auf Empfehlung des Workshopleiters, dem Autor Lennardt Loß, bewarb sie sich bei der renommierten Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung – und wurde angenommen. Aus zwei Seiten Text wurden hier zehn.

„Ich hatte damals überhaupt keine Ahnung von dieser ganzen Nachwuchsautor*innenmaschinerie. Mir war nicht klar, dass Leute an diese Orte gehen, um dort entdeckt zu werden.“ Teile des Manuskripts landeten schließlich beim Frankfurter S. Fischer Verlag. „Als ich den Vertrag unterschrieben habe, war der Roman noch nicht fertig.“

Mir fällt auf, dass vor allem migran­ti­sierte Autor*innen oft mit den Figu­ren ihrer Bücher abge­gli­chen werden. Es gibt im Lite­ra­tur­be­trieb so ein über­stei­ger­tes Inter­esse daran, den vermeint­lich wahren, authen­ti­schen Menschen hinter dem Text zu zeigen. Das finde ich proble­ma­tisch.

Anna Yeliz Schentke

Oft wird Schentke nach ihrer eigenen Familiengeschichte gefragt. Ob es da vielleicht Parallelen zur Romanhandlung gibt? Das tut nichts zu Sache, findet sie. „Mir fällt auf, dass vor allem migrantisierte Autor*innen oft mit den Figuren ihrer Bücher abgeglichen werden. Es gibt im Literaturbetrieb so ein übersteigertes Interesse daran, den vermeintlich wahren, authentischen Menschen hinter dem Text zu zeigen. Das finde ich problematisch.“

Trotzdem gehört Schentke nicht zu jenen Autor*innen, die sich hinter ihren Romanfiguren verstecken, sondern nimmt hin und wieder auch öffentlich Stellung zu Themen, die ihr wichtig sind. „Ich bin ein politischer Mensch – und sehr für‘s Einmischen, Widersprechen und Diskutieren.“

Anna Yeliz Schentke, Foto: Neven Allgeier

Ich bin ein politischer Mensch – und sehr für‘s Einmischen, Widersprechen und Diskutieren.

Anna Yeliz Schentke

Ein Beispiel: Vor kurzem hat Schentke in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ das Verhalten von Tourist*innen kritisiert, die mit ihren im Netz zur Schau gestellten Fotos die Türkei als weltoffen und tolerant erscheinen lassen, während die Realität – etwa für Kurd*innen und Oppositionelle – völlig anders aussieht. „Ich habe nichts dagegen, wenn jemand Urlaub in der Türkei macht“, stellt sie klar. „Doch diese falsche Romantisierung kann ich einfach nicht mehr ertragen.“

Druck, mit dem nächsten Roman den Erfolg wiederholen oder gar übertreffen zu müssen, verspürt sie keinen. „Ich kann gut damit umgehen, wenn jemand einen Text von mir auch mal nicht so gut findet.“ Arbeitet sie bereits an ihrem zweiten Roman? „Ja“, sagt Schentke – ohne konkret zu werden. „Der Text entsteht zunächst im Kopf. Es dauert lange, bis ich mit dem Schreiben anfange“, beschreibt sie ihren Workflow. Doch wenn es erst einmal so weit ist, geht alles ganz schnell.“

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S. FISCHER VERLAG