Das Filmkollektiv Frankfurt zeigt Filme, die aus den unterschiedlichsten Gründen unterrepräsentiert sind und nicht zum Kanon gehören. Nun feiert die Gruppe ihr zehnjähriges Bestehen.
Für zwei sonnige Mittagsstunden sind wir zu Gast im Hotel Nizza in der Elbestraße. Wer eintreten will, muss vorher klingeln. In der Lobby ordern wir Getränke, die wir auf einem Tablett auf die kleine, mit vielen Grünpflanzen ausgestattete Dachterrasse in den fünften Stock balancieren, die wir heute ganz für uns alleine haben. Es ist auf unspektakuläre Weise schön und beinahe idyllisch hier oben. Der Blick streift über die Backsteinbauten des Bahnhofsviertels. Den Hintergrund bilden die Wolkenkratzer der Skyline. Das stilvolle Haus gilt als Künstler*innenhotel und ist besonders in der Kulturszene beliebt. Felix Fischl, Sebastian Schwittay, Svetlana Svyatskaya und Gary Vanisian, die vier Mitglieder des Filmkollektivs Frankfurt, quartieren hier regelmäßig internationale Regisseur*innen und andere Gäste ein, die zu den von ihnen kuratierten Filmreihen anreisen. Auch als Büroersatz für Arbeitstreffen haben sie das Hotel, in Ermangelung eigener Räume, schon oft genutzt.
Mix aus anspruchsvollen Werken und B-Movies
Das Filmkollektiv Frankfurt hat sich auf Filme spezialisiert, die aus den unterschiedlichsten Gründen unterrepräsentiert sind und nicht zum etablierten Kanon gehören. Zum Beispiel, weil sie unzugänglich sind. „Als wir uns vor zehn Jahren gegründet haben, waren wir stark von einer Gruppe Nürnberger Filmenthusiast*innen beeinflusst, die sich Hofbauerkommando nennt“, erzählt Felix Fischl. „Die haben sich als Filmbefreier*innen verstanden. Etwa 95 Prozent der Filmgeschichte ist nur analog vorhanden, schlummert in Archiven und kann deshalb nicht gesehen werden. Das wollten wir, ganz im Geiste des Hofbauerkommandos, ändern. Wir wollten Filme aus den Archiven herausholen und auf die Leinwand bringen.“
Ihr Programm ist ein im besten Sinne wilder Mix, der politisch oder künstlerisch anspruchsvolle Werke mit vermeintlich trashigen B-Movies vereint. Oft werden Filme gezeigt, die von der Kinogeschichte vergessen wurden. „Nehmen wir zum Beispiel den schwedischen Regisseur Bo Widerberg“, sagt Gary Vanisian. „In den Sechzigern war er einer der bekanntesten europäischen Autorenfilmer und Oskar-nominiert – inzwischen kennen ihn nur noch wenige Eingeweihte.“ Auch um die Werke von Ola Balogun, ein Pionier des nigerianischen Kinos der sogenannten Pre-Nollywood-Ära, hat sich das Filmkollektiv Frankfurt verdient gemacht. Gary Vanisian konnte vermitteln, dass die raren Kopien seiner Werke dem Archiv der Cinémathèque française übergeben werden, damit sie der Nachwelt erhalten bleiben.
Das Kollektiv nimmt einige Mühen in Kauf, um Filme im Originalformat – meist also 35mm – und mit Untertiteln zu zeigen. „Es kam schon oft vor, dass wir Übersetzungen selbst anfertigen oder beauftragen mussten, weil keine Untertitel in deutscher oder englischer Sprache vorhanden waren“, erzählt Svyatskaya. „Filmrollen müssen verschickt und versichert werden, manchmal kommen sie später an als angekündigt“, sagt Fischl. „Einmal ist es uns sogar passiert, dass eine Rolle beim Transport – zum Glück nur vorübergehend – verschwunden ist.“ Rund sechs Filmreihen kuratieren die Mitglieder pro Jahr. Sie laufen im Kino des Deutschen Filmmuseums, dem Filmforum Höchst oder der „Pupille“ im Studierendenhaus an der Uni, an Orten also, wo die Mieten billiger sind als in den kommerziellen Kinos der Stadt. Das Kollektiv ist bei der Finanzierung seiner Projekte auf Fördergelder angewiesen. Außerdem gibt es an diesen Orten noch analoge Filmprojektoren, was längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Es kam schon oft vor, dass wir Übersetzungen selbst anfertigen oder beauftragen mussten, weil keine Untertitel in deutscher oder englischer Sprache vorhanden waren.
Zu den, gemessen an verkauften Tickets, erfolgreichsten Veranstaltungen der zehnjährigen Geschichte zählt – neben der beliebten Reihe „Erotisches Kino am Valentinstag“ – eine Filmreihe mit dokumentarischen und experimentellen Filmen zur Frankfurter Stadtentwicklung. Felix Fischl hat zehn der im Programm gezeigten Filme auf DVD herausgebracht. „Das war das erste Mal, dass wir etwas für den Heimgebrauch veröffentlicht haben. Das ist eigentlich untypisch für uns. Ich habe das damals als Tropfen auf den heißen Stein empfunden“, sagt er. „Es hat mit gezeigt, dass wir im Grunde eine Sisyphusarbeit leisten. Das Ungezeigte wird immer größer sein, als das, was wir aus den Archiven holen können. Man kommt einfach nie ans Ziel“ Zur DVD schrieb der promovierte Kulturwissenschaftler eine 60-seitige Broschüre. „Sich in die Entstehungsgeschichte eines Films hineinzudenken, Zusammenhänge deutlich machen: Darum geht es uns immer. Wir wollen einen Film nicht einfach bloß zeigen, sondern auch Hintergrundinformationen liefern und mit dem Publikum in Dialog treten.“
Wie ein Nischenprogramm die Frankfurter Filmlandschaft prägt
Mit seinem ambitionierten Nischenprogramm hat das Kollektiv – zusammen mit vielen Mitstreitenden – die Filmlandschaft der Stadt geprägt. „Wir und andere Kollektive haben Einfluss darauf genommen, welche Filme heute in den Kinematheken gezeigt werden“, sagt Svetlana Svyatskaya. „Das Denken darüber, welche Filme in ein solches Filmarchiv gehören und insbesondere auf die Leinwand gebracht werden, hat sich geändert. Es müssen nicht immer nur die Meisterwerke sein. Die Gründe, warum Filme im Kino wieder- oder neuentdeckt werden, sind vielfältiger geworden.“ Die freie Kuratorin arbeitet inzwischen auch als Referentin für Film beim Frankfurter Kulturamt. Sie freut sich darüber, wie sich die hiesige Filmlandschaft in den vergangenen Jahren verändert und gerade auch Filme jenseits des Mainstreams in Blick genommen hat: „Das italienische Genrefilmfestival Terza Visione ist nach Frankfurt gezogen, im Pupille-Kino an der Uni sind die Tage des experimentellen Films entstanden und die Kinemathek Asta Nielsen veranstaltet das großartige Festival ‚Remake. Frankfurter Frauen Filmtage‘. In Frankfurt kann man bestens Filmgeschichte entdecken. Das ist eine tolle Entwicklung.“
Im Kunstverein Familie Montez wurde am 23. September erst einmal Jubiläum gefeiert. Sogenannte Scopitones, das sind Juke-Boxes mit integriertem Filmprojektor – eine Art Vorläufer des Musikfernsehens – sorgten dafür, dass die Party in Schwung kommt. Ab dem 30. September folgt dann im Kino des DFF ein Programm mit amerikanischen Musicalfilmen, die vor der Einführung des Hayes Code in den Dreißigerjahren entstanden sind. Im Dezember steht eine Werkschau des französischen Experimentalfilmregisseurs Bertrand Mandico auf dem Programm. Mandico wird zuvor in Frankfurt einen Kurzfilm drehen. „Es handelt sich um eine Hommage an Fassbinders Film ‚In einem Jahr mit 13 Monden‘“, sagt Vanisian, der den Film produziert. Eine Rohfassung soll bereits im Rahmen der Werkschau aufgeführt werden.
Wir wollen einen Film nicht einfach bloß zeigen, sondern auch Hintergrundinformationen liefern und mit dem Publikum in Dialog treten.
Sebastian Schwittay wiederum bereitet aktuell eine Filmreihe vor, bei der es um abgelehnte Filmmusiken geht. „Das bekannteste Beispiel ist der Film ‚2001: Odyssee im Weltraum‘ von Stanley Kubrick. Die Musik, die dafür ursprünglich komponiert wurde, hat der Regisseur nicht verwendet.“ Schwittay studiert Musik- und Filmwissenschaft und schreibt gerade an seiner Masterarbeit. „Filmmusik ist mein Schwerpunkt, obwohl ich damit immer zwischen den Stühlen sitze. Weder die Musik- noch die Filmwissenschaft fühlt sich für das Thema wirklich zuständig. Ich möchte dazu beitragen, dass Musik als selbstverständlicher Teil der Filmkultur wahrgenommen wird.“
Fischl, der inzwischen Geschäftsführer des Filmhaus Frankfurt ist (ein Job, der viel Zeit in Anspruch nimmt, weshalb er sich demnächst aus dem Kollektiv zurückziehen wird) und Vanisian – Autor, Filmemacher und Kurator – gehören zu den Gründungsmitgliedern. Svyatskaya und Schwittay kamen erst später hinzu. „Meine Eintrittskarte war eine Schau mit Werken von Marco Ferreri“, erinnert sich Svyatskaya. „Bei mir war es eine Reihe mit Filmen des belgischen Regisseurs Thierry Zéno, der sich im Kunstfilmkontext mit den Außenseitern der Gesellschaft beschäftigt“, sagt Schwittay. „Das Thema hat mich gereizt, weil es im Grunde die Programmatik des Kollektivs betrifft: Bei allem, was wir machen, geht es schließlich darum, dem Ausgegrenzten und Beiseitegeschobenen einen Platz zu geben.“