Melanie Jame Wolf, The Creep (Filmstill),

DOUBLE FEATURE

Das Double Feature versteht sich als Plattform für verschiedene Strömungen und Ausdrucksformen der Film- und Videokunstproduktion. Seit mehr als acht Jahren lädt die SCHIRN nationale und internationale Film- und Videokünstler*innen ein, ein Werk aus ihrem eigenen Schaffen zu präsentieren, gefolgt von einem Film ihrer Wahl. In der SCHIRN wurden bereits Filme und Videoarbeiten von über 60 Künstler*innen gezeigt. Die Videos und Gespräche mit den bisher beteiligten Künstler*innen sind über den YouTube-Kanal der SCHIRN unter dem Titel "Video Art" abrufbar. Auch das SCHIRN MAGAZIN liefert regelmäßig diskursive Beiträge mit redaktionellem Schwerpunkt Videokunst zur Double Feature-Reihe.

Double Feature versteht sich als Plattform für ganz unterschiedliche Tendenzen und Ausdrucksformen der künstlerischen Filmproduktion

Florencia Levy, Filmstill: Fossil Place (2019), © die Künstlerin

FLORENCIA LEVY

Florencia Levy widmet sich in verschiedenen Medien dem Thema Geschichte und Erinnerung. Ihre künstlerische Praxis basiert auf langfristiger Forschung über Subjektivitäten, Architektur und Machtdynamiken in menschlichen und nicht-menschlichen Umgebungen. Mit interdisziplinärem Ansatz integriert sie u. a. Interviews und Feldforschung, um politische Erzählungen an konfliktbezogenen Orten und Objekten zu erkunden. In der SCHIRN präsentiert Levy ihre Arbeit "Fossil Place" (2019, 15 Min.). In Form eines Film-Essays führt das Werk durch mehr als 40 Jahre ökologische und wirtschaftliche Realität in China und vermittelt zugleich eine Reise in die Vergangenheit und einen Blick auf eine potenzielle Zukunft der Menschheit. Dabei verbindet "Fossil Place" dokumentarisches Material, atmosphärischen Sound und eine narrative Ebene und schafft eine dystopische Sicht auf die menschliche Zivilisation.

Zudem präsentiert Levy einen Ausschnitt aus ihrer Arbeit "Hundreds of Millions of Years for These Forms" von 2023, die in Form eines Chors, bestehend aus 12 posthumane Entitäten, um das Phänomen des Tiefseebaus kreist. Der Text und die Chorstruktur, welche aus computergenerierten Bildern, Motion Capture und der Aufnahmen menschlicher Stimmen erstellt wurde, basieren auf Interviews, wissenschaftlichen Publikationen und spekulativer Fiktion.

MARGARET HAINES, On Air: Purity, Pollution & Corruption (FILMSTILL), 2024 © margaret haines

MARGARET HAINES

Margaret Haines‘ multimediale künstlerische Praxis basiert auf umfassenden Recherchen, welche die Künstlerin mit philosophischen Fragestellungen verknüpft. In ihren jüngsten Videoarbeiten erweitert und bricht sie diese mit Elementen aus Film, Literatur, Astrologie, Fotografie und Installationskunst zu oft unheimlich anmutenden, fiktionalen und bildstarken Geschichten. Sie basieren auf Aspekten von Okkultismus und Sekten, Verschwörungstheorien und Ideologien, die fest in der gegenwärtigen Realität verankert sind. In der SCHIRN präsentiert Haines ihre neueste Arbeit „On Air: Purity, Pollution & Corruption“ (2024, 25 Min.) in einer Weltpremiere. Die Handlung des experimentellen Sci-Fi-Kurzfilms basiert in Teilen auf Ideen der Künstlerin und Okkultistin Marjorie Cameron (1922–1995).

Die Arbeit setzt in Paris im Jahr 2047 an und kreist um eine Sekte, deren Überzeugung in dem unerschütterlichen Glauben wurzelt, Jesus Christus habe eine heimliche Zwillingsschwester gehabt. Unzählige Nachfahren seien aus dem weiblichen Messias hervorgegangen – darunter auch die als Hexe verbrannte Johanna von Orléans (Jeanne d’Arc), die seither in verschiedenen Reinkarnationen wiedergeboren wurde und die Welt in einem bestimmten Moment zum Frieden führen werde. In Anlehnung an das Leben der historischen Jeanne d’Arc entwirft die Künstlerin eine spekulative, gewaltvolle Zukunftsvision, in der sie humoristisch die Plausibilität und parafiktionalen Erfahrungen eines weiblichen Messias erkundet. „On Air: Purity, Pollution & Corruption“ kann als ein ökofeministischer Gegenentwurf zu popkulturell weit verbreiteten stereotypen Hexendarstellungen verstanden werden und besticht durch eine außergewöhnliche Cinematographie, welche die Wirkung eines Fiebertraums entfaltet.

OPEN GROUP

Open Group ist ein ukrainisches Künstler*innen-Kollektiv, das seit 2012 aktiv ist. Die Arbeit der Gruppe basiert auf der Erforschung von Interaktionen zwischen Menschen und kontextuellen Räumen, um „offene Situationen“ zu schaffen. Auch die künstlerische Praxis basiert auf der Untersuchung des Konzepts der kollektiven Arbeit. Die ständigen Mitglieder der Gruppe sind (seit 2019) Yuriy Biley, Pavlo Kovach und Anton Varga. In der SCHIRN präsentiert Open Group die filmische Arbeit „Repeat After Me“ (2024, 35 Min.), mit der das Kollektiv aktuell den Polnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig bespielt. Der Film ist ein kollektives Porträt von Zeugen des anhaltenden Krieges in der Ukraine. Darin teilen zivile Flüchtlinge ihre Kenntnisse der Geräusche des Krieges. Sie ahmen verschiedene Waffentypen nach und fordern die Betrachter*innen zur Wiederholung der einfachen Klangsequenzen auf. Auf diese Weise teilen sie einen Aspekt ihrer Erlebnisse mit und verdeutlichen zugleich, dass dieser nicht in der Lage ist, die Erfahrungen der Flucht und der unmittelbaren Bedrohung zu vermitteln. Nachdem der erste Teil von „Repeat After Me“ (18 Min.) bereits 2022 in einem provisorischen Lager in Lwiw gedreht wurde, werden in der Fortsetzung weitere Schauplätze in diesmal sicheren temporären Unterkünften in Polen, Österreich, Deutschland, Litauen, Irland und der USA gegenübergestellt. Doch auch an diesen Orten bleiben die Geräusche des Krieges Teil der individuellen Traumata und erweitern symbolisch ihre Reichweite.

Open Group, Repeat After Me II (Filmstill), 2024, © Open Group

DIEGO MARCON

Diego Marcon, geboren 1985 in Busto Arsizio und derzeit in Mailand ansässig, studierte Filmschnitt in Mailand und Bildende Kunst in Venedig. Seine Kunst beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Realität und Repräsentation und erforscht das Potenzial des bewegten Bildes, Wissen und Wirklichkeit zu hinterfragen. In seinem Film MONELLE (2017) liegen junge Mädchen schlafend in der Casa del Fascio in Como, einem Meisterwerk der modernen Architektur von Giuseppe Terragni. In flüchtigen Lichtblitzen erscheinen die Bilder kurzzeitig, während CGI-animierte Gestalten im Dunkeln mysteriöse Aktivitäten entfalten. MONELLE ist ein zirkulärer Film ohne Anfang oder Ende, der verschiedene Filmstile wie 35mm und CGI sowie strukturalistisches Kino und das Horror-Genre miteinander vermischt. Im Anschluss wird O, Persecuted (2014) von Basma Alsharif gezeigt. Der Film verwandelt die Restaurierung eines palästinensischen Militantenfilms von 1974 in eine filmische Performance, die Vergangenheit und Gegenwart, Ideologie und Eskapismus auf eindringliche Weise verbindet. Die Geschichte entfaltet sich durch das Entfernen einer bemalten Oberfläche, bis die verborgenen Bilder kraftvoll hervorbrechen und die Spannung der Geschichte in wild energetische Szenen übergeht.

Diego Marcon, Monelle, 2017, Digital video transferred from 35mm film, CGI animation, color, sound, 16'02'' (Theatrical version), © Diego Marcon, Courtesy the artist and Sadie Coles HQ, London

JOHANNES BÜTTNER

Johannes Büttner untersucht in seinen meist raumgreifenden Videoinstallationen spekulative sowie wissenschaftlich fundierte sozioökonomische Themen in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Um Zukunftsszenarien zu skizzieren, bedient er sich an verschiedenen Formen des Hackens, DIY und dem Genre Cyber Punk. Seine Arbeit bindet oft Personen ein, die außerhalb der Kunstwelt agieren. Die daraus resultierenden Erzählungen oszillieren zwischen Realität und Fiktion. In der SCHIRN präsentiert Büttner den Film The Factory (2020, 16:45 Min.) sowie seine neueste Arbeit Terra Nullius (2024, 24:44 Min.). The Factory befasst sich mit der sogenannten Gig-Economy, in der selbständige Unternehmer*innen auf Zeit zunehmend Festangestellte ersetzen. Für den Film schafft der Künstler gemeinsam mit eben solchen digitalen Arbeiter*innen aus der ganzen Welt eine Science-Fiction-Erzählung, die um die Frage kreist, wie die Gig-Arbeiter*innenklasse Macht zurückgewinnen kann. Büttner untersucht in diesem Kontext, in dem Angebot und Nachfrage von Arbeit durch eine digitale Plattform vermittelt werden, die Möglichkeit einer Transformation der Arbeitskraft. In Terra Nullius dokumentiert Büttner seine Reise in die Freie Republik Liberland und porträtiert die rechtslibertären Siedler*innen des Scheinstaats, der sich auf einem unbewohnten Stück Niemandsland zwischen Kroatien und Serbien befindet. Das Ziel der Protagonist*innen ist die Errichtung eines anarchokapitalistischen Staats, in dem der freie Markt die gesellschaftlichen Belange regelt und öffentliche Institutionen in privater Hand liegen. Liberland befindet sich mitten in Europa auf einem Gebiet, für das die Besitzansprüche infolge des Jugoslawienkriegs ungeklärt sind.

Johannes Büttner, Terra Nullius (Filmstill), 2024, Courtesy of the Artist

ELISA GIARDINA PAPA

Elisa Giardina Papa ist eine italienische Künstlerin, deren Arbeiten Geschlecht, Sexualität und Arbeit im Kontext des neoliberalen Kapitalismus und der Grenzen des globalen Südens untersuchen. Ihr aktuelles Werk dokumentiert, wie vergangene und gegenwärtige Formen des Kapitalismus nach und nach alle Fähigkeiten zur Arbeit und zum Leben – einschließlich Schlaf, Affekt und Emotionen – ausgeschöpft haben und lenkt den Blick stattdessen auf alles in unserem Leben, was sich nicht fassen, übersetzen oder berechnen lässt. Ihr Film „U Scantu: A Disorderly Tale“ (2022, 13'06'') zeigt eine Neuinterpretation des sizilianischen Mythos der donne di fora („Frauen von draußen und außer sich“). Diese Frauen wurden als sowohl magisch als auch kriminell beschrieben und sollen sowohl das Weibliche als auch das Männliche, das Menschliche und das Tierische, das Wohlwollende und das Rachsüchtige in sich vereint haben.  Begleitet von keramischen Skulpturen verwandter fantastischer Bilder, nutzt „U Scantu: A Disorderly Tale“ das Magische, Ritualistische und Ungeordnete als Kräfte, die eine Vorstellung jenseits vorgegebener Kategorien des Menschseins, der chronologischen Zeit und der mythologischen Weiblichkeit schaffen.

Elisa Giardina Papa, “U Scantu”: A Disorderly Tale, 2022. Video and ceramic installation. Variable dimensions,12 min. Still frame from video. Courtesy of the Artist and Galerie Tanja Wagner. ©Elisa Giardina Papa

ALICJA WYSOCKA

Alicja Wysocka, geboren in Polen und Absolventin der Hochschule für Bildende Künste Städelschule in der Klasse von Haegue Yang in Frankfurt am Main, Deutschland, konzentriert sich in ihrer Praxis auf die Dokumentation und Schaffung alternativer Wirtschaftsmodelle, Gemeingüter und gemeinschaftlicher Formen des Zusammenlebens. Wysocka produziert ortsspezifische Videoinstallationen, Objekte und Situationen und erforscht Handwerk, Ritual und kollaborative Formen, die potenziell als kollektive therapeutische Erfahrungen funktionieren. In "Untitled (Nothing Happens)" (2023, 30 Min.) stellt Alicja Wysocka einem Chatbot die Frage: "Bist du gelangweilt?" Darauf antwortet der Bot: "Als KI-Sprachmodell empfinde ich Langeweile nicht wie Menschen." Ihr neuer Film erforscht das Potenzial von Langeweile. Pensionierte Freundinnen kommen zusammen, um Handspiele in einer sich drehenden Teetasse zu spielen. Die Struktur des Films konzentriert sich auf die Dynamik der Gruppe, während sie auf engem Raum über eine lange, leere Zeit eingeschränkt ist. Die Teetasse stammt von der Societe Ceramique, einem Keramikunternehmen, das von 1863 bis 1958 in Maastricht gegründet wurde und dessen Produktionsbetrieb mit der Ausbeutung lokaler Bevölkerungen verbunden war. Der Film greift auf sentimentale Erinnerungen an Vergnügungsparkfahrten zurück und ruft die Zeitlichkeiten von Produktivität und Arbeit hervor, die unser Leben regeln.

Alicja Wysocka, Untitled (Nothing Happens), Filmstill, 2023, Courtesy of the Artist

JOHANNA BILLING

Johanna Billing untersucht in ihren Videoarbeiten, welche Faktoren zwischenmenschliche Handlungen und Entscheidungen beeinflussen und insbesondere, welche Rolle dabei den unvorhersehbaren Momenten zukommt. Ausgangspunkt von Billings Arbeiten ist meist ein Dialog, in dem die beteiligten Personen ihre Rolle innerhalb einer Gruppe durch Performance und Improvisation erkunden. In der SCHIRN präsentiert die Künstlerin ihren Film „Each Moment Presents What Happens“ (2022, 27 Min.), der die experimentelle Praxis des US-amerikanischen Komponisten und Künstlers John Cage (1912–1992) mit einer Gruppe von Studierenden zur Neuanwendung bringt. Anlässlich der Eröffnung des neuen Zentrums der darstellenden Künste der Bristol Grammar School greift Billing in dieser Arbeit John Cages Performance „Untitled Event (Theater Piece No. 19)“ auf, um gemeinsam mit den Studierenden Workshops zu entwickeln. Sie experimentieren mit einer Vielzahl von Fundstücken aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Die nicht-hierarchische Lehrmethode setzt dabei Vergangenheit und Gegenwart in Bezug und eröffnet einen multiperspektivischen Blick. Die Idee, dass die Erfahrungen eines Moments nie gleich sind, veranschaulicht Billing in „Each Moment Presents What Happens“ durch den Einsatz einer 360-Grad-Kamera anstelle eines Publikums. Durch das Einfügen von Szenen aus dem vorherigen Schulalltag thematisiert sie zudem die komplexe Art und Weise, wie Situationen im alltäglichen Leben choreografiert, Handlungen in Bezug auf andere ständig neu kalibriert und unsere Wissenssysteme organisiert werden.

Johanna Billing, Each Moment Presents What Happens (Filmstill), 2022, Courtesy of the Artist

ANITA DI BIANCO

Die amerikanische Künstlerin Anita Di Bianco (geb. 1970 in New York) arbeitet mit Film, Video und Printmedien. Ihre Kurzfilme verfolgen Strategien der Neu-Inszenierung von Werken bekannter Schriftsteller wie Winfried Georg Sebald oder Gertrude Stein und entstabilisieren so die Vorstellung einer unantastbaren Autorschaft. Analytisch die Textauswahl, puristisch die Bilder: Di Biancos Remakes machen verborgene Strukturen sichtbar und eröffnen neue Lesarten. Die Arbeit "Com Viet" re-inszeniert ein Interview mit der französischen Schriftstellerin Marguerite Yourcenar aus dem Jahr 1980. Yourcenar, die alle denkbaren Formen der unkonventionellen Liebe in der Literatur aufgespürt und auch experimentell geprüft hatte, forschte lebenslang nach Alternativen zum „großen inszenierten Gefühl“, das sie für einen Wesenszug der französischen Kultur hielt. Die entsprechenden Passagen aus dem Interview werden als Off-Stimme vor dem Hintergrund eines vietnamesischen Restaurants eingespielt und zum Teil von einem Schauspieler monologisch in den Räumlichkeiten des Berliner Münzsalons vorgetragen.

Anita Di Bianco, Com Viet (Filmstill), 2008, Courtesy the Artist

MELANIE JAME WOLF

Melanie Jame Wolf ist bildende Künstlerin und Choreografin. In ihren Arbeiten setzt sie sich u. a. mit den Themen Macht, Kapital und dem Showbusiness auseinander. In der Schirn präsentiert sie ihre jüngste Videoarbeit The Creep (2023, 15 Min.), die sie im Kontext einer multimedialen Installation schuf. Als Fortsetzung ihrer fortlaufenden „Creep Studies“ analysiert die Künstlerin in dem Werk die Dynamik zwischen Gewalt, Begehren und Performativität. In ihrer Arbeit konzentriert sie sich auf spezifische Performance-Techniken wie Imitation, Proben oder Stand-Up. In The Creep steht eine Cowboy-Figur im Mittelpunkt. Anhand der choreografierten Handlungen dieser Protagonist*in werden die vielschichtigen Definitionen und Erfahrungen von „creep“ – eines Gefühls, Substantivs und Verbs – untersucht. Visuell lehnt sich Wolf an eine hyperstilisierte Pop-Ästhetik an. Zudem verwendet sie in ihrer Arbeit Sprache und Humor als Mittel, um strukturelle Gewalt, Macht und alltägliche Spannungen zu hinterfragen.