Es dauerte lange, bis Lee Krasner die verdiente Aufmerksamkeit als Künstlerin erhielt. Doch dann bekam sie einen bedeutenden Auftrag für eine Wandmalerei mitten in Manhattan.

Heute nehme ich die U-Bahn in Richtung Innenstadt bis hinunter zur Südspitze von Manhattan. Dort möchte ich Krasners letzte erhaltene Wandbilder in New York sehen. Jackson Pollock starb 1956 bei einem Autounfall, seine Geliebte Ruth Kligman überlebte. Dies war ein tiefer Schock für Krasner und veränderte ihr Leben von Grund auf. Als Pollocks Alleinerbin musste sie sich einmal mehr um seine Besitztümer kümmern – vor allem die Gemälde –, seinen Nachlass verwalten und versuchen, seine Werke in Ausstellungen und Privatsammlungen unterzubringen. Sein früheres Atelier, die Scheune in Springs auf Long Island, nutzte sie nun auch für die Arbeit an ihren eigenen großformatigen Bildern. Nach vielen schwierigen Jahren kamen endlich gute Kritiken für sie. Das reichte aus, um einen großen Auftrag von Bob Friedman und den Uris Brothers zu erhalten.

Nachdem ich die U-Bahn am Bowling Green verlassen habe, gehe ich an den National Archives at New York City vorbei zum Bürogebäude 2 Broadway. Eigentlich sollte dort ein 20 Meter breites und 3,60 Meter hohes Mosaikbild direkt über dem Haupteingang prangen, aber ich kann es nicht sehen. Auf den zweiten Blick entdecke ich es dann hinter einem Gerüst und einem grünen Bauzaun aus Holz. Hellgrüne, leuchtend blaue, mattrote und schwarze Glasstücke fügen sich zu großen, spitzen, an Scherben erinnernde Formen. Obwohl das Wandbild fast ganz von Baugerüsten verdeckt ist, beeindruckt es trotzdem durch seine schiere Größe.

Bob Friedman, damals Vizepräsident des Bauunternehmens Uris Brothers, hatte sich verliebt in einen Mosaiktisch, den Krasner 1947 in Springs aus übrig gebliebenen Glassteinchen von einem anderen Projekt gestaltet hatte. Als dann die Architekten Emery Roth & Sons vorschlugen, Mosaikbilder über dem Eingang und auf der Rückseite der 1958/59 erbauten Konzernzentrale von Uris Brothers anzubringen, bestand Friedman darauf, den Auftrag für die Wandgestaltung an Lee Krasner zu vergeben. Diese zog ihren Neffen Ronald Stein hinzu, er war der einzige in ihrer Familie, der ebenfalls seinen Weg in die Kunst fand. Gemeinsam beschlossen sie, die Mosaiksteinchen nicht in einheitliche Quadrate aus Glas zuzuschneiden, sondern sie in freien Formen zu brechen. Das lockerte die Komposition auf und lässt sie abstrakter wirken.

In der Hoffnung, das rückseitige Wandbild besser zu sehen, gehe ich um den großen 32-geschossigen Turm herum zur Broad Street. Dort muss ich feststellen, dass der Zugang wegen einer geschlossenen Gesellschaft abgesperrt ist, eine Pergola blockiert die Sicht. Noch will ich mich aber nicht geschlagen geben und betrete die schmale Marketfield Street, um zumindest von der Seite her einen Blick auf das Mosaik zu werfen. Auch hier wird gebaut, die gesamte Gasse steht voller Gerüste, die den Blick versperren. An einer Stelle kann ich mich aber hochziehen und über den Bauzaun hinweg das Werk betrachten. Mit Wandbildern befasste sich Krasner während ihrer Tätigkeit für das Federal Art Project. Seit 1935, gleich nach dessen Gründung durch die Arbeitsbeschaffungsbehörde WPA, war sie dort beschäftigt. Als Teil von Roosevelts Reformprogramm stellte das Federal Art Project über 10.000 Künstler ein, die während der Wirtschaftskrise Werke für öffentliche Gebäude schufen. Es gab dort Abteilungen für Staffeleimalerei und Wandgestaltung, Krasner wurde Letzterer zugewiesen. Obgleich die von den Gebäudeinhabern eingeforderte Kunst entsprach nicht ihrem Stil, dennoch war sie dankbar für die finanzielle Unterstützung. Meist vollendete sie die Entwürfe anderer Künstler, vergrößerte sie maßstabgerecht und führte sie vor Ort aus. Damals lernte sie schon, im großen Maßstab zu arbeiten – lange vor der Begegnung mit Jackson Pollock.

Lee Krasner and Ronald Stein, mosaic murals, 1959; 2 Broadway, Photo: Elizabeth Felicella, Image via craftcouncil.org

Das Mosaik an der Rückseite von 2 Broadway weist ähnliche Farben auf wie das an der Vorderseite: gedecktes Rot, Hellgrün, Schwarz und Blau, dazu viel Orange, was ihm Lebendigkeit verleiht. Die abstrakten, gezackten Formen erinnern mich an Matisses „cut outs“, seine collagierten abstrakten Scherenschnittbilder. Mit Sicherheit hat Krasner sie in der Retrospektive gesehen, die ihrem erklärten Lieblingskünstler 1951 vom MoMA ausgerichtet wurde. Mit einem Mal höre ich einen lauten Knall von der anderen Seite der Gasse, so als würde eine Tür zugeschlagen. Ich hatte nicht weiter auf meine Umgebung geachtet, als ich auf der untersten Gerüststange balancierte. Eilig springe ich herunter und gehe zurück zur Broad Street, als plötzlich ein Auto aus dem Nichts kommt, durch eine Pfütze rauscht und davonrast. Fast wirkt es, als hätte ich versehentlich einen Drogendeal zunichte gemacht. Tja, was tut man nicht alles für die Kunst?