vom 30. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016 in der SCHIRN
Das Jahrhundert beginnt stürmisch
Wir schreiben das Jahr 1910. Mit radikalen Neuerungen rebellieren Künstler und Intellektuelle gegen das verkrustete Wilhelminische Zeitalter. Vor allem in der Reichshauptstadt Berlin brodelt es unter der Oberfläche.
1910
Die Atmosphäre wirkte wie elektrisch geladen. Auch für den Kunstkritiker und Komponisten Herwarth Walden war die Zeit reif für ein Wagnis. Er gründete eine Zeitschrift zur Förderung der expressionistischen Kunst: DER STURM. Sie traf einen Nerv und etablierte sich schnell zu einer der wichtigsten Publikationen für den Austausch von Literaten und Künstlern in Deutschland. Der große Erfolg ermutigte Walden zur Eröffnung der STURM-Galerie, die ihn zu einem Vorkämpfer für die Avantgarde machen sollte.
DAS STURM-UNIVERSUM
Der grosse Förderer der weiblichen Avantgarde
Der Begriff STURM war ein Aufruf gegen alles Etablierte. Damit beanspruchte Walden, die überlebte Kunst und Kultur der damaligen Zeit rundum zu erneuern.
Die STURM-Galerie zeigte zahlreiche internationale Künstlerinnen, z. B. die Skandinavierin Sigrid Hjertén oder die Belgierin Marthe Donas. Jacoba van Heemskerck aus Den Haag stieg zu der STURM-Künstlerin schlechthin auf – keine andere war mit einer vergleichbaren Fülle an Werken vertreten wie sie. Von 1912 bis 1932 organisierte Herwarth Walden mindestens 192 Ausstellungen in Deutschland und mehr als 170 im Ausland, darunter auch in New York und Tokio.
WALD
EN
Else Lasker-Schüler
Mein Mann ist der größte Künstler und tiefste Idealist, der mir vorgekommen ist.
Im frühen 20. Jahrhundert war die Vorstellung fest verankert, dass es Frauen an schöpferischer Kraft fehle und sie sich nie zu ernstzunehmenden Künstlerinnen entwickeln könnten.
„Sehen Sie, Fräulein, es giebt zwei Arten von Malerinnen, die einen möchten heiraten und die anderen haben auch kein Talent.“
Simplicissimus, 1901
Gegen alles Laue und Ängstliche
Eine pulsierende Grossstadt
Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs, Europas größtes Handelszentrum, wachsende Weltmetropole. Laut, geschäftig, hektisch. Berlin war alles zugleich! Mehr als zwei Millionen Einwohner lebten hier. Mondänes Bürgertum traf auf Lumpenproletariat!
Die Treibende Kraft des STURM
Das gesamte STURM-Universum ist besonders das Verdienst von Herwarth Waldens zweiter Ehefrau: Die gebürtige Schwedin Nell Roslund sorgte für die Rahmenbedingungen.
ROS
LUND
Leuchtende Farbwirbel, starke Kontraste und geometrische Formen bestimmen den Bühnenentwurf zu der Mantel-und-Degen-Komödie „Dame Kobold“.
In den 1920er-Jahren interessierte Walden sich sehr für Osteuropa und die dortigen politischen Umbrüche. Ganz selbstverständlich wurden im STURM Arbeiten von Vjera Biller aus Belgrad oder den Russinnen Natalja Gontscharowa und Alexandra Exter gezeigt. Vor allem die kühlen, technisch anmutenden Kulissen Exters wirken auch noch heute futuristisch. Die ungewöhnliche Anordnung der Raumelemente spielt mit der Erwartungshaltung der Zuschauer.
In ihrer Heimat gehörten all diese Frauen bereits zu den künstlerischen Vorreiterinnen. Sie waren ihrer Zeit weit voraus und brachen mit etablierten Wahrnehmungsgewohnheiten. Der weibliche Beitrag zur Entwicklung der modernen Kunst findet in der Geschichtsschreibung jedoch nur selten Berücksichtigung. Viele Verdienste werden heute männlichen Mitstreitern zugeschrieben, obwohl sie oftmals von den Künstlerinnen profitierten.
Der STURM und die europäische Avantgarde
Welt am Abgrund
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war die Monarchie zusammengebrochen und hinterließ einen Trümmerhaufen. Die neue Republik war schwach und ihr fehlte es an Rückhalt in der Bevölkerung.
Statt die Probleme des verlorenen Krieges in Angriff zu nehmen, musste sich die junge Demokratie in einem permanenten Überlebenskampf gegen militante Gruppen des rechten und linken Parteienspektrums verteidigen. Wegen der blutigen Unruhen in Berlin tagte die ungeliebte Regierung in Weimar.
Zwischen Apokalypse und Ekstase
EXZ
ESSIV
Die Wegbereiterin des Guggenheim-Museums
Rote, grüne und blaue Kontraste in amorphen Formen überlagern sich wie Klänge in dem hochformatigen Gemälde. Sie entspringen einem Fixpunkt im linken unteren Viertel und verteilen sich in wildem Rhythmus in alle Richtungen.
Nicht nur künstlerisch war Rebay eine Pionierin: 1927 wanderte sie infolge einer zerbrochenen Beziehung nach Amerika aus. Sie lernte den Industrie-Magnaten Solomon R. Guggenheim kennen, den sie für zeitgenössische Kunst aus Europa begeisterte. Als seine langjährige Beraterin legte sie den Grundstein für eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst: das Solomon R. Guggenheim Museum. Rebay war es auch, die den Architekten Frank Lloyd Wright mit dem Bau des spektakulären Gebäudes beauftragte.
Das neue Frauenbild
Zeit der vielfältigen Kunstströmungen
Von der Jahrhundertwende bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten war die Kunst durch eine Fülle an Stilexperimenten geprägt. Alternative Ausbildungsmöglichkeiten und der Kunstmarkt jenseits der staatlichen Akademien beförderten diese Entwicklung. Mehrere Richtungen existierten gleichberechtigt nebeneinander, verschmolzen und ergaben wiederum eine neue Bewegung. Auch Frauen beteiligten sich daran – ungeachtet der vorherrschenden Meinung, die ihnen künstlerische Fähigkeiten absprach. Für Herwarth Walden waren all diese Stile gemäß seiner Weltanschauung „expressionistisch“. Heute wird stärker zwischen den einzelnen Richtungen unterschieden.
AVANT
GARDE
Amazonen der Moderne
Die wachsende Akzeptanz der weiblichen Freiräume ebnete auch Künstlerinnen den Weg. Reibungslos verlief es für sie dabei nicht. Wenn ihr Werk als „männlich“ gelobt wurde, war das eine zweifelhafte Auszeichnung.
Einige veröffentlichten ihre Arbeiten zunächst unter einem männlichen Pseudonym – oder blieben im Unbestimmten: Marthe Donas legte sich z. B. den neutralen Vornamen „Tour“ zu. Nur wenigen gelang es, sich aus den Strukturen der geschlechtsspezifischen Bewertungen zu befreien.
Alissa Georgijewna Koonen
Später erfuhr ich, dass man sie in linken Künstlerkreisen ‚die Amazonen‘ nannte, denn bei allen Diskussionen und Kunstdebatten zeigten sie einen ziemlich kriegerischen Geist.
Frivol und flatterhaft?
Die von Sigrid Hjertén dargestellte Frau mit Pelz und rotem Hut von 1915 ist modisch am Puls der Zeit. Den von einem roten Glockenhut gekrönten Kopf hält sie in koketter Pose schräg. Darunter lugt die für Frauen damals revolutionäre Kurzhaarfrisur, der Bubikopf, hervor.
Ohne mit der Wimper zu zucken
Weitaus weniger frech als Hjerténs Frau mit rotem Hut tritt das Bildnis einer jungen Frau von Emmy Klinker in Erscheinung.
Zeichen der Moderne: Kunst als Lebensentwurf
Körpereinsatz mit abstrakten Elementen
Wild und dynamisch treten der Toboggan-Mann und die Toboggan-Frau auf. Grellbunte Farbflächen kennzeichnen die Ganzkörperkostüme, die die Körper der beiden umgeben.
TOBOG
GAN
Dimensionen der Angewandten Kunst
Das Kunstgewerbe ermöglichte vielen Frauen, Geld zu verdienen und sich gestalterisch auszudrücken. Zur Kunst gehörten inzwischen nicht nur Malerei, Skulptur oder Architektur, sondern auch Literatur, Musik, Tanz, Film oder Druckgrafik. Gerade im Theater, aber auch im Bereich des Designs wurde der Innovationsgeist von Künstlerinnen wie Sonia Delaunay, Lavinia Schulz oder Alexandra Exter anerkannt. Sie beschäftigten sich nicht nur auf theoretischer Ebene mit der Wirkung einzelner Farben, sondern wendeten sie auch praktisch an. In Sonia Delaunays Simultankleid oder Jacoba van Heemskercks Glasfenster spiegeln sich die zeitgenössischen Farbtheorien wieder, die nun auch im Kunstgewerbe zur Anwendung kommen.
GEGEN DIE ZWEI-KLASSEN-GESELLSCHAFT
Die Avantgarde bezog Alltagsgegenstände in ihr Kunstverständnis ein. Ob Wohnungseinrichtungen und Essgeschirr, Stoffe und Mode, Bühnenbilder, Buchumschläge oder Glasfenster: In der Weltanschauung des STURM ging es darum, alle Aspekte der Lebenswelt durch Kunst zu gestalten.
Eine Bildungsstätte, die Kunst und Handwerk zusammenführte, war das 1919 von Walter Gropius gegründete Staatliche Bauhaus.
KÜNSTLERPAARE
Zahlreiche STURM-Frauen lebten mit einem Künstler zusammen – als Ehefrau oder Geliebte. Oft finanzierten die Künstlerinnen den gesamten Unterhalt, indem sie ihr Privatvermögen in die Partnerschaft einbrachten.
Vor allem aber verdienten sie mit kunsthandwerklichen Arbeiten besser als die Männer, die rein auf den Verkauf von Gemälden angewiesen waren. Während diese ihre Karriere vorantrieben, konzentrierten sich einige STURM-Frauen auf die Angewandte Kunst, die allgemein nicht als ebenbürtig verstanden wurde.
Pionierin des Science-Fiction-Films
Hört die Signale!
Der Rote Planet und seine Bewohner
Das STURM-Vermächtnis
Das Ende einer Ära
Die verbliebenen Gemälde der STURM-Galerie hatte Walden frühzeitig seiner zweiten Frau Nell vermacht. Sie konnte die Sammlung auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in die Schweiz retten. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurden einige Werke versteigert. Die Lücke, die das Dritte Reich in die europäische Kunstproduktion gerissen hat, ließ sich jedoch nicht mehr schließen.
1932
Die STURM-Frauen verschwanden aus dem Blickfeld des Publikums. Heute muss ihre Geschichte neu erzählt werden!