Das Somerset House in London zeigt in der Ausstellung "Tintin: Hergé’s Masterpiece" mit viel Liebe zum Detail das Universum einer der einflussreichsten Comicfiguren der Geschichte.

Sollte jemand anderes Tim und Struppi übernehmen, macht er es vielleicht besser als ich, oder auch nicht. Eins ist sicher, er würde es anders machen und es wären auch nicht mehr Tim und Struppi.

Hergé

So faktisch und zutreffend äußerte sich Georges Prosper Remi, besser bekannt unter dem Künstlernamen Hergé, einst zur Zukunft des von ihm geschaffenen Abenteurers und Kult-Reporters Tim. Der vielleicht berühmteste Export Belgiens löst seit 1929 mitsamt seinem weißen Foxterrier Struppi Kriminalfälle auf der ganzen Welt und schaffte es vom Beiblatt der belgischen Zeitung Le Vingtième Siècle zum eigenständigen Comic-Heft, ins internationale Fernsehprogramm und mehrere Male sogar auf die Kinoleinwand – zuletzt 2011 in Steven Spielberg’s überraschend charmanten Animationsfilm Die Abenteuer von Tim und Struppi: Das Geheimnis der ‘Einhorn‘. Grund genug, einmal zwischen den Sprechblasen zu lesen.

© Hergé-Moulinsart 2015/Somerset House - Installation image

Mit Tintin: Hergé’s Masterpiece hat das Londoner Somerset House in Zusammenarbeit mit Belgiens Hergé Museum eine Ausstellung realisiert, die alles von Charakterstudien in Bleistift über Aquarelle bis hin zum fertiggestellten Comic-Buch umfasst. Tim und sein soziales Umfeld – das fällt schnell auf – leben in einer Welt, die zwar farbenfroh, aber von starken Konturen geprägt ist. Die von Hergé geleistete Pionierarbeit der ligne claire versieht den Comic mit stilistischer Präzision und Struktur und verleiht ihm somit sein typisch europäisches Auftreten. Kontrastiert wird diese Art des Malens durch amerikanische Comics der Zwanziger Jahre, deren Lockerheit und Rauheit in früheren Arbeiten des Künstlers sekundär wahrnehmbar sind.

Hergé’s Liebe zur Architektur

Die Umsetzung des grafischen Elements ist den Kuratoren des Somerset House besonders gut gelungen: An die Wand gemalte Fenster und Bilderrahmen geben den Blick auf bekannte Figuren und Szenarien der Tim und Struppi-Serie frei und laden dazu ein, Beziehungen zwischen den einzelnen Fenstern in ähnlicher Weise zu etablieren, wie es beim Lesen des Cartoons geschieht. Dies scheint angebracht, dürfte das Fenster wohl als eines der wichtigsten sowohl architektonischen und narrativen Merkmale Hergés gelten. So ist Tim verblüffend oft dabei abgebildet, wie er vor Fenstern lauscht, aus ihnen springt und Antagonisten durch sie beobachtet oder von ebensolchen beobachtet wird.

© Hergé-Moulinsart 2015/Somerset House - Installation image
© Hergé-Moulinsart 2015/Somerset House - Installation image

Einen besonderen Höhepunkt bilden eine kleine Gruppe von Modellen, die eigens für die Ausstellung angefertigt wurden und es den Besuchern ermöglichen, die Welt des spitzfindigen Reporters mit Haartolle und polierten Manieren außerhalb des weißen Comic-Rahmens in drei Dimensionen wahrzunehmen. Von Tim und Struppi‘s spartanisch-emblematisch eingerichteter Wohnung bis hin zum prächtigen Schloss Mühlenhof, welches von dem herrlich menschlichen Neben-Charakter Kapitän Haddock erworben wird und dem klassizistisch-barocken Schloss Cheverny im französischen Blois nachempfunden ist; die Installationen verleihen der Symbolik des beliebten Comic-Strips Räumlichkeit und bieten Projektionsfläche.

Auf Exkursion mit Tim und Struppi

Hergé’s Liebe zur Architektur, aber auch zur Kunst und zum Design, ist in der Londoner Ausstellung kaum zu übersehen. Fotos zeigen ihn posierend mit einer von Bildhauer Nat Neujean 1975 gehauenen Statue Tims in Brüssel, mit Andy Warhol vor einer Reihe Pop Art-Porträts, für die Hergé Modell stand und ein Zitat spricht von der Neugier und Bewunderung, die der belgische Meister für Mobiles des amerikanischen Künstlers Alexander Calder empfand: "Sie bestehen aus Elementen aus leichtem Metall, zusammengesetzt durch dünne Drähte. Wenn man sie von der Decke hängt, versetzt sie der geringste Zug in Bewegung. Sie sind anmutig, leicht und ausgesprochen poetisch."

© Hergé-Moulinsart 2015

Fernab von visueller Inspiration musste sich Hergé, so wird deutlich, an tiefgehende Nachforschungen über die Länder und Kulturen, in die er Tim und Struppi auf Exkursion schickte, aber erst gewöhnen. Ähnlich wie sein belgischer Künstler-Genosse René Magritte hegte Hergé eine nicht unwesentliche Aversion gegen das Reisen und seine Darstellungen beruhten auf Quellen aus medialer Berichterstattung und der Welt der Filme. Nicht zu Unrecht wurden dem Belgier dafür zu Lebzeiten wie auch heute noch ein Mangel an Wahrnehmungsvermögen und daraus resultierender Sensibilität vorgeworfen. Allem voran steht der 1931 erschienene Band Tim im Kongo, der Kritikern seit jeher auf Grund des unterschwellig kolonialen Tones ein Dorn im Auge ist.

Manchmal naiv, nie xenophob

Ebenfalls fragwürdig ist die Darstellung amerikanischer Juden in Der geheimnisvolle Stern, die nicht zum ersten Mal dazu führte, dass Hergé’s Werk mit antisemitischen Einstellungen assoziiert wurde. Die Geschichte war zwischen Oktober 1941 und Mai 1942 in der zu dieser Zeit den Nazis unterworfenen, belgischen Le Soir zu lesen und ging der Ausweisung jüdischer Einwohner Belgiens nur wenige Monate zuvor. Trotz alledem war Hergé aber kein Rassist: Eine Fotografie zeigt ihn vertraut mit dem chinesischen Bildhauer Zhang Chongren vor dem Triumphbogen des Jubelparks in Brüssel. Laut eigenen Angaben war es diese Bekanntschaft und die enge Zusammenarbeit an Der blaue Lotus, die dem Comic-Macher die Bedeutsamkeit authentischer Kultur-Recherche für seine Arbeit erkennen ließ und ihn nebenbei auch zum Schaffen der mit Tim eng befreundeten Figur Tschang Tschong-jen bewegte. Hergé’s Intention, wenngleich manchmal naiv, war nie xenophob.