Zwei Monate, zwölf Künstler und sechs verschiedene Orte: Einblicke in verborgene Aspekte der Offenbacher Stadtgeschichte
Die Zeiten, in denen man als stolzer Proletarier mit einem Fuchsschwanz hinter der Windschutzscheibe noch Eindruck schinden konnte, sind längst vorbei. Das Auto des Konzeptkünstlers Jochem Hendricks ist hingegen ein echter Hingucker: Der Innenraum des blauen Opel Corsa soll bis unter das Dach mit Bier geflutet werden. Wenn am 19. August die Ausstellung „Hidden View“ eröffnet, wird der Kleinbürgerwagen so selbstverständlich und ordnungsgemäß auf dem Offenbacher Wilhelmsplatz parken, als hätte ihn der Fahrer nur mal eben kurz zum Einkaufsbummel abgestellt.
„Die irritierende Installation ist eine Hommage auf das Rhein-Main-Gebiet als bedeutende Fertigungsstätte von Autoteilen“, sagt die freie Kuratorin Nadia Ismail. Zusammen mit Britt Baumann, Abteilungsleiterin im Amt für Kultur- und Sportmanagement, hat Ismail 12 Künstlerinnen und Künstlern folgende Aufgabe gestellt: Schafft ein maßgeschneidertes Kunstwerk für einen von sechs ausgesuchten Offenbacher Orten, das dem Betrachter Lust macht, sich mit eher verborgenen Aspekten lokaler Geschichte oder Geograpie zu befassen. Auf dem Wilhelmsplatz wird es neben dem Bierauto noch zwei weitere Arbeiten geben: Eine Soundinstallation von Michael Zheng, die auf die Tatsache anspielt, dass der Ort bis 1866 ein Friedhof war. Noch heute liegen Knochen unter dem Pflaster. Außerdem parkt hier für die Dauer der Ausstellung ein Wohnwagen, aus dem heraus das Kollektiv „Geheimagentur“ willige Passanten mit originellen Aufgaben zur Zeitverschwendung anleitet.
Perfekt auf den Ort zugeschnittene Skulpturen
Mit den beiden Kuratorinnen und zwei der an „Hidden View“ beteiligten Künstler haben wir uns vor dem Markthäuschen auf dem Wilhelmsplatz verabredet. Der italienische Bildhauer Fabrizio Prevedello ist aus der Nähe der Marmorstadt Carrara, wo er in den 90er-Jahren an der Akademie der Künste studierte, nach Offenbach gereist. Ihm sind zwei selbstgezimmerte Kisten vorausgeeilt, in die er neben Werkzeugen wie Schweißgerät und Flex auch ein Fahrrad gepackt hat. „Das Rad brauche ich, um von meinem provisorischen Atelier bis zum Alten Offenbacher Friedhof an der Mühlheimer Straße zu fahren“, sagt er.
Dort hat es ihm eine alte Mauer angetan, die zwischen zwei Grabreihen steht. Mit einer raffiniert konstruierten Stahltreppe will er sie überwinden (allerdings nur symbolisch. Für Besucher heißt es: Betreten verboten!) Keine wolkenstürmende Himmelsleiter, sondern eine vergleichsweise erdverbundene Variante: „Die Treppe wächst scheinbar aus dem Erdreich heraus und – auf der anderen Seite der Mauer – auch wieder hinein“, sagt Prevedello. Weil er zeitweise in Berlin lebte, spricht er ziemlich gut deutsch. „Für den Betrachter gibt es keinen Standort, von dem er beide Hälften des Werks überblicken kann. Er sieht immer nur eine Seite. Die Abstände zwischen den einzelnen Sprossen sind unterschiedlich lang. Bei manchen Schritten ist es schwieriger Tritt zu fassen als bei anderen. Natürlich kann man in dieser Konstruktion eine Metapher auf das Leben sehen“. Auf dem Alten Friedhof ist Prevedello nicht alleine: Auch die Künstler Thomas Rentmeister (seine mit Mullbinden überzogenen Fahrradständer sehen ein bisschen wie Maden aus) und Julia Bünnagel (sie zeigt acht Glasplatten, in denen sich vorbeiziehende Wolken spiegeln) stellen hier perfekt auf den Ort zugeschnittene Skulpturen aus.
„Ich mag kräftige Farben, weil sie eine starke Energie vermitteln“, sagt die französische Künstlerin Elsa Tomkowiak bei unserem Treffen im Markthäuschen. Man glaubt ihr diesen Satz sofort – nicht zuletzt, weil sie um den Hals eine auffällig bunte Kette trägt. In einem kleinen Teich des Dreieichparks lässt Tomkowiak 244 Plastikkugeln schwimmen, die auf der Innenseite mit Acrylfarbe bemalt sind. Jede einzelne ist etwas größer als ein Basketball. Zusammen bilden sie eine amorphe Skulptur, die sanft auf dem Wasser schaukelt. „Die Kugeln stellen eine Verbindung zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos her“, erzählt die Künstlerin. „Sie erinnern an Atome, aber auch an Planeten“. Ebenfalls für den Dreieichpark hat der Bildhauer Gereon Krebber eine Skulptur namens „Klops“ gefertigt, die sich auf zwei Betonobjekte bezieht, die hier schon seit 1879 stehen.
Die Stadtgrenze, eine ehemalige Landesgrenze
Neben Wilhelmsplatz, Altem Friedhof und Dreieichpark, gehören auch ein Ort an der Frankfurter Stadtgrenze, ein ehemaliger Richtplatz und der Vorplatz des Ledermuseums zu den Schauplätzen von „Hidden View“. „Die Stadtgrenze war früher sogar eine Landesgrenze. Heute nimmt man sie bloß noch als RMV-Tarifgrenze wahr“, sagt Britt Baumann. Die Künstlerin Luka Fineisen schuf in der Nähe eines Grenzsteins eine Installation, bei der das Wasser in einem (vermutlich) ehemaligen Löschteich mit gebündelten und blau eingefärbten Ästen korrespondiert. „Es sieht so aus, als hätten die Zweige eine Fließrichtung“, sagt Baumann.
Auf einem Spielplatz (Ecke Hermann-, Schäfer- und Christian-Pleß-Straße) lässt die Künstlerin Jana Müller mit Fotos bedruckte Streifen aus LKW-Plane aus den Bäumen hängen. Ein Motiv zeigt ein (mittlerweile abgerissenes) Haus in der Offenbacher Geleitstraße 30, in dem das Holz jener Galgen verbaut war, die einst dort standen, wo sich heute eine Rutschbahn befindet.
Der Künstler ein lebender Pinsel
Auf dem Platz vor dem Ledermuseum (der Platz dient auch als Gedenkstätte an die Verbrechen der Nazis, gleich um die Ecke war früher ein Gestapo-Gefängnis) steht eine Installation von Marc Aschenbrenner, bei der rote Tücher durch Lücken in einem Gitternetz aus grauen Anschnallgurten fallen. „In zwei Performances wird sich der Künstler als lebender Pinsel betätigen, durch die Maschen winden und dabei Farbspuren hinterlassen“, sagt Nadia Ismail. „Es geht bei der Aktion auch um das sprichwörtliche soziale Netz durch das man fallen kann.“
„Wer sich alle sechs Orte nacheinander anschauen will, braucht für den Rundgang etwa zweieinhalb Stunden“, sagt Britt Baumann. Orientieren kann man sich auf dieser Tour an einem originellen Wegweisersystem aus gezeichneten Augen. Die irische Künstlerin Katie Holten hat sie aus Selfies, die sie auf Twitter unter dem Hashtag Offenbach fand, erst herauskopiert und dann nachgezeichnet.