Die Angst, in Vergessenheit zu geraten: Eine vielstimmige Ausstellung in der Kunsthalle Mainz setzt sich mit unterschiedlichen Formen des Vergessens und Verschwindens auseinander.

Als der große Meister der Zaubertricks, Harry Houdini, 1918 am New Yorker Times Square einen Elefanten verschwinden ließ, versetzte er sein Publikum natürlich in ungläubiges Staunen. Noch nie hatte ein Magier ein Objekt von solcher Größe scheinbar in Luft aufgelöst. Dies sollte sich spätestens Ende der 80er-Jahre ändern, als der TV-Illusionist David Copperfield die Freiheitsstatue vor laufender Kamera zum Verschwinden brachte.

Walid Raad/The Atlas Group (1989-2004): We decided to let them say „we are convinced" twice. It was more convincing this way_ Soldiers I, 1982/2004, Courtesy the artist and Sfeir-Semler Gallery, Beirut / Hamburg

Doch bevor der Zauberer das Wahrzeichen New Yorks wiedererscheinen ließ, hielt er eine Ansprache an das Publikum, in welcher er an die Bedeutung von Freiheit erinnerte. Somit ließ er den Zuschauer glauben, dass sich hinter seinem Zaubertrick auch noch ein politisches Statement verbirgt. In Copperfields sensationellen Illusionen spiegelt sich jedoch auch und vor allem sein eigener Drang nach Ruhm und die Angst, in Vergessenheit zu geraten und aus den Geschichtsbüchern zu verschwinden.

Unterschiedliche Herkunft und Medien

Die Ausstellung "Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen", die noch bis zum 19. November in der Kunsthalle Mainz zu sehen ist, setzt sich mit der Vielschichtigkeit des Verschwindens auseinander. Während einige künstlerische Positionen sich mit dem Verlust von Individualität und Wissen auseinandersetzen, fokussieren sich andere auf das rein physische Verschwinden. Bereits bei der Künstlerauswahl fällt auf, dass Stefanie Böttcher, Kuratorin der Ausstellung, auch daran gelegen ist, eine Vielstimmigkeit zu erzeugen. Dies zeigt sich nicht nur in den unterschiedlichen Herkünften der eingeladenen Künstler, sondern auch an den Medien derer sie sich bedienen.

Installationsansicht "Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen": Petrit Halilaj © Kunsthalle Mainz, Foto: Norbert Miguletz

Zu Beginn der Ausstellung zeigt der libanesische Künstler Walid Raad Fotografien des Bürgerkriegs in Beirut von 1982 mit dem Titel "We decided to let them say "we are convinced" twice. It was more convincing this way". Der Titel der Arbeit referiert auf das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Material, welches den Krieg vermeintlich dokumentiert und dann archiviert wurde. Während Walid Raad den Wahrheitsgehalt von amtlichen Dokumenten in Frage stellt und damit das Verschwinden einer objektiven Faktizität thematisiert, dokumentiert der Künstler Petrit Halilaj das Verschwinden eines kulturellen Erbes. Er stellt vergessene Objekte aus dem 2001 wegen politischer Neuausrichtung geschlossenen Naturhistorischen Museums des Kosovo aus. Dabei schöpft er nicht nur aus dem Archiv des Museums, indem er einen originalen Schrank ausstellt, sondern kreierte aus Eisen, Erde und Exkrementen originalgroße Nachbildungen von Tieren, die nach der Neuausrichtung des Museums dem Verfall preisgegeben wurden.

Wechselspiel von Vergänglichkeit und Kanon

Auch die polnische Künstlerin Agnieszka Polska macht sichtbar, was es nicht mehr gibt. In ihrem Video „Future Days“ lässt sie zehn tote Künstler und Theoretiker des 20. Jahrhunderts in einem fiktiven Himmel zusammenkommen. In einem Dialog unterhalten sich prominente Figuren der Kunstszene wie Charlotte Posenenske und Paul Thek über ihr Leben in der Nachwelt und die Wirkung von Kunst, wenn ihre Produzenten nicht mehr am Leben sind. Agnieszka Polska, die u.a. in der PEACE Ausstellung vertreten war sowie für den Preis der Nationalgalerie nominiert ist, thematisiert in dieser Arbeit das Wechselspiel zwischen der Vergänglichkeit und dem Nachleben von Kunst. Doch auch die Bedeutung von Kunsthistorikern und Kuratoren und die damit einhergehende Kanonbildung schwingt in "Future Days" mit. Wer ist letztlich dafür verantwortlich, dass Künstler in Museen kommen, bleiben oder verschwinden?

Agnieszka Polska: Future Days, 2013 HD Video, 29:30 Min. (Still) © the artist, courtesy ŻAK | BRANICKA
Sofia Hultén: Grey Area, 2001 DVD, 9 min, Loop Courtesy: Sofia Hultén und Daniel Marzona, Berlin

In ihrer Videoarbeit "Grey Area" versucht die schwedische Künstlerin Sofia Hultén sich in zwölf verschiedenen Weisen in einem verlassenen Büro zu verstecken. Sie klettert im Businessoutfit mal auf einen Büroschrank, um nicht gesehen zu werden oder versucht sich ihrer Umgebung ähnlich einem Chamäleon anzupassen, indem sie sich in einem riesigen Papierhaufen im Kopierraum versteckt. Das Video erinnert zunächst an Versteckspiele aus der Kindheit, doch hinter diesem scheinbar lustigen Setting verbirgt sich eine Kritik an unserer anonymisierten Arbeitswelt, in der das Individuum zu verschwinden droht.

Die eindringliche Sprache eines Teenagers

"Ich werde wie ein Schatten von etwas sein, das fort ist." Ein Teenager sitzt in einem Wald und spricht in eine Kamera von seiner Vorstellung unsichtbar zu werden. In Tim Etchells Videoarbeit "Erasure" gibt sich ein Junge der Imagination hin, seine Existenz auslöschen zu können. Hierbei beschreibt er unterschiedliche Verfahren der Überwachung, derer er sich nun, da er keine Spuren mehr hinterlassen wird, gänzlich entziehen kann. Der britische Künstler Tim Etchells, der gleich mit mehreren Werken in der Ausstellung vertreten ist, thematisiert in seinen Arbeiten die Inszenierung von Sprache. So ist es nicht nur das Sujet des Videos, welches den Betrachter einnimmt, sondern vor allem auch die eindringliche Sprache des Teenagerjungen.

Installationsansicht "Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen": Tim Etchells © Kunsthalle Mainz, Foto: Norbert Miguletz
Tim Etchell, Will Be (Frankfurt), 2012

Besucher des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturm mag Etchells Umgang mit Sprache möglicherweise bereits aufgefallen sein. Hier schmückt seine Installation "Will be" seit einigen Jahren die Außenfassade der ehemaligen Seifenfabrik und 2018 wird Etchell dort eine große Performance realisieren. Wer gerne vorab schon einen Einblick in seine Arbeit als darstellenden Künstler gewinnen möchte, kann am 7. November zu dem Performance-Abend "Can You See What I Am Saying" in die Kunsthalle Mainz kommen, den er gemeinsam mit dem Zauberer Vincent Gambini gestaltet.

Das Rahmenprogramm von "Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen" beinhaltete noch weitere Künstler, die bereits in Frankfurt gewirkt haben. So auch der Schwede John Skoog, der an der Städelschule studierte und am 27. November zum DOUBLE FEATURE der SCHIRN eingeladen ist. Im Rahmenprogramm der Ausstellung bespielen Skoog und die Filmklasse Mainz, deren Vertretungsprofessur er derzeit innehat, das Filmscreening Programm „Fade into You“. Hier untersuchen Skoog und seine Studierenden die narrativen Verknüpfungen zwischen Filmen und Zügen und zeigen als Abschluss der Serie am 29. September den Film „Strangers on a Train“, den sie zuvor auf einer Zugreise gedreht und entwickeln haben werden und unmittelbar danach in Mainz vorstellen.

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Installationsansicht "Mit den Händen zu greifen und doch nicht zu fassen": Pamela Rosenkranz © Kunsthalle Mainz, Foto: Norbert Miguletz