Melancholische, wütende, verzweifelte Lyrics tanzen mit den Basslines und Drums. Ein 16er erklingt: über Welt- und Liebesschmerz, Kopfschmerz und Depression, Trauer und Wut.

Das Musikfernsehen der Neunzigerjahre war ein zentrales Medium, das afroamerikanische Hip-Hop-Kultur audio-visuell in die Jugendzimmer migrantischer und deutscher Jugendlicher brachte. In Anlehnung an die ehemalige VIVA-Sendung „Word Cup“, die von 1996 bis 1999 ausgestrahlt wurde, beschäftigen sich Tyron Ricketts und seine Co-Moderatorinnen Joana Tischkau und Sophie Yukiko gemeinsam mit Gäst*innen mit dem deutschen Begehren nach Schwarzer Kultur. Darüber hinaus diskutieren sie in ihrer dreiteiligen Veranstaltungsreihe WORD CUP RELOADED, die vom 17.-19. Mai in der SCHIRN stattfindet, auch mögliche Schnittstellen zwischen afroamerikanischer Hip-Hop-Kultur und dem Aufwachsen in Deutschland als migrantische Jugendliche in den Neunzigerjahren bis heute. Die folgende Playlist stellt eine Auswahl der Songs und Artists vor, die in der Veranstaltungsreihe aufgegriffen werden.

Das Erste, was ein Song in der Regel auslöst, ist ein Gefühl. Da erscheint es nur folgerichtig, dass auch die Playlist einen emotionalen Zugang wählt. Hip-Hop-Kultur aus den USA und migrantisches Aufwachsen in Deutschland haben auf emotionaler Ebene ebenfalls eine Verbindung: den Schmerz, der aus struktureller Benachteiligung sowie Identitätskonflikten resultiert und als zentrales lyrisches Motiv zahlreicher Rap-Songs dient. So ist Rap ein kreatives Outlet, mithilfe dessen marginalisierte junge Menschen anhand poetischer Sprache und lyrischer Stilmittel ihrer Emotionalität freien Lauf lassen können. Auch wenn Jugendliche in Deutschland auf den ersten Blick nichts mit den Lebensrealitäten afroamerikanischer Rap-Artists gemeinsam haben, sind Wut und Leid, die u.a. in Rap-Songs verarbeitet werden, Gefühle, die migrantische Jugendliche nachempfinden können, auch wenn sie die englischen Lyrics und die kulturspezifischen Verweise vielleicht nicht vollständig verstehen.

Dem Schmerz die Trivialität nehmen

In seinem Text „The Artist’s Struggle for Integrity“ (1962) beschreibt James Baldwin, dass der individuelle Schmerz trivial sei und keine Bedeutung habe. In dieser Bedeutungslosigkeit des Schmerzes läge jedoch ein Vorteil: das Nachempfinden des Leidens einer anderen Person. Durch die emotionale Verbundenheit und dem darin liegenden Trost könne dem Schmerz seine Trivialität genommen werden.

Für mich ist die folgende Playlist mein Trost. Je trauriger ich bin, desto mehr Rap höre ich. Er lässt mich traurig sein und schafft es zugleich, mir Halt zu geben. Rap kann nach außen hart, brachial und in die Fresse sein, aber tief drinnen verletzlich. In Rap steckt eine zerrissene Seele. Die melancholischen, wütenden, verzweifelten Lyrics tanzen mit den Basslines und Drums. Ein 16er erklingt: über Weltschmerz, Liebesschmerz, Kopfschmerz und Kopfficks, Depression, Trauer und Wut. Kein zeitgenössisches Musikgenre schafft es so viele verschiedene Gefühlszustände und Formen von Schmerz abzudecken. Rap, das kann wie poetischer Schmerz auf 90 bpm klingen.

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I THE REPLAY

Wie die erste Veranstaltung von WORD CUP RELOADED, so beginnt auch der Playlist mit einer Reise in die Vergangenheit. Es ist 1996: Zum ersten Mal flimmert durch den kleinen Röhrenfernseher im Jugendzimmer „Word Cup“, an der Wand hängt ein Scarface-Poster. Selbstverständlich wird in der ersten Veranstaltung ein Song von Tupacs Album „Me against the world“ präsentiert. Von dieser LP stammt auch „So many tears“ (1995). Das Stevie Wonder Sample lässt den Song fröhlicher wirken, als die düsteren Lyrics tatsächlich verlauten lassen:  Auf suizidale Gedanken, Tod, Verlust, fehlende Zukunftsperspektiven folgen die Klänge der Mundharmonika.

„Life´s a bitch, then you die“ (1994) von Nas wird melancholisch von der Trompete seines Vaters begleitet. Nas zeichnet sich vor allem durch sein Talent fürs Storytelling über das Aufwachsen in Queensbridge und die Struggles Schwarzer Menschen aus.

Was Nas für Queens repräsentiert, ist Azad für die Nordweststadt Frankfurts. Street Poetry aus Frankfurt „kommt direkt aus dem Herz von dem Inneren“. Damit wird Azads Rap zu was Besonderem: Straßenrap mit Tiefe und Seele, oft begleitet mit einer Melancholie und Roughness! Etwas, was uns Aggro Berlin nicht geben kann, „denn nur wer seine Gefühle zeigt, weiß wirklich letzten Endes was wahre Stärke heißt“. Produziert wurde „Heartcore“ (2000) von Azad selbst. Unverkennbar ist hier der Einfluss von US-Eastcoast-Rap. So stammt das Intro „Rap is art, its coming straight from the heart“ von A Tribe Called Quest. Ein weiterer wichtiger Einfluss für sein musikalisches Schaffen ist der Schmerz der kurdischen Diaspora.

Der Name und Look des Duos aus Atlanta, der Titel des Albums („ATLiens“) und des Tracks „E.T. (Extraterrestrial)“ (1996) zeigen: Outkast sind eine Ausnahmeerscheinung – wie Außerirdische auf der Erde. Wie Fremde im Rap-Kosmos der East- und Westcoast. Zu Fremden gemacht und im eigenen Land strukturell ausgegrenzt werden, das können Menschen mit Migrationsgeschichte nachempfinden. Durch die in Deutschland stationierten US-Streitkräfte, von denen viele aus den Südstaaten stammen, wurde der Dirty South Sound vor allem im Südwesten Deutschlands in die Clubs gebracht und prägte entscheidend die Entstehungsgeschichte von Hip-Hop in Deutschland.

„Du liebst mich nicht“ (1997) ist wiederum ein Klassiker für Trennungsschmerz. Sabrina Setlur wurde mit diesem Song die erste Rapperin Deutschlands, die Platz eins der deutschen Singlecharts erreichte. Trotz des kommerziellen Erfolgs – oder gerade deswegen – fand sie damals in Hip-Hop-TV-Formaten kaum Beachtung. Weiße Männer aus der bürgerlichen Mittelschicht mit kommerziellem Erfolg (wie bspw. Massive Töne oder 5 Sterne Deluxe) wurden in entsprechende Sendungen eingeladen, für eine wütende, nicht-weiße Rapperin gab es jedoch keinen Platz. Dies steht exemplarisch für den Sexismus im Deutsch-Rap und der Unsichtbarkeit weiblicher Rap-Artists zu dieser Zeit. Wahrscheinlich ist dies auch die Ursache dafür, warum Cora E als Hip-Hop-Pionierin ein Alleinstellungsmerkmal in der Szene hatte. Ihr Song „Schlüsselkind“ (1996) thematisiert schmerzliche Erfahrungen in Bezug auf das eigene familiäre Schicksal als Scheidungskind und klingt wie eine Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit – „Es wäre nichts so, wie es ist, wär' es damals nicht gewesen, wie es war!“.

II THE PRESENCE

Angelehnt an die zweite Veranstaltung versammelt die Playlist auch diverse Tracks aus der Gegenwart. Es ist 2024: Rap ist im Feuilleton und im Museum angekommen. Haftbefehl sieht man im ARD-Kulturmagazin „Titel, Thesen, Temperamente“. Die SCHIRN präsentiert die Ausstellung THE CULTURE. Im Foyer der Kunsthalle hört man den Frankfurter Newcomer Ramzey rappen: „Dreiundzwanzig Jahre Pech, Nicht nur die Skin ist dark“. Rap aus Frankfurt ist nach wie vor Straßenrap mit Seele, melancholisch und aggressiv. Depressionen im Ghetto und „wieder am Block“ mit Krisen im Kopf: darüber rappen Haftbefehl und Liz. Beide sprechen offen über ihre Depressionen und ihre Drogensucht, zeigen sich selbstbewusst und verletzlich zugleich. In „Allein sein“ thematisiert Liz ähnlich wie Cora E ihr Aufwachsen als Schlüsselkind.

Deutschland ist nach wie vor durchzogen von rassistischen Kontinuitäten. Mit „K4L/ Kanak 4 Life“ wendet die queere, kurdische Rapperin Ebow die Beleidigung zur empowernden Selbstbezeichnung um und liefert für die von Rassismus betroffenen Menschen eine Hymne, in der sie u.a. das Schicksal der Gastarbeiter*innen beschreibt. Das Video schlägt mit so einer Wucht und Wut ein. Nichts ist subtil, sondern wird schwarz auf weiß in Fakten und Bildern vor die Augen gehalten, wie beispielsweise das Bild von Mehmet Kubaşık auf einem T-Shirt, der vom rechtsextremen Netzwerk NSU ermordet wurde. Bei WORD CUP RELOADED wird der Videoregisseur Mirza Odabaşı näher auf das Video eingehen.

Ansu und Apsilon stehen wiederum stellvertretend für eine neue Generation von Rap-Artists, die mit einer Selbstverständlichkeit offen über Gefühle rappen und Männlichkeit kritisch reflektieren. Sie verkörpern damit eine „Vision" von Rap, die weniger hypermaskulin erscheint und dadurch neue Männlichkeitsbilder nach außen transportiert. Ansu setzt sich mit der Kampagne „irgendwasmussichveraendern“ für Awareness und gegen sexuelle Übergriffe auf Hip-Hop-Veranstaltungen ein.

Apsilon performt im TV den Song „Baba“ Arm in Arm mit seinen Freunden und bringt mich in Gedenken an meinen verstorbenen Vater zum Weinen. Arda ist der bürgerliche Name von Apsilon. Arda heißt auch die Hauptfigur des Debütromans „Vatermal“ von Necati Öziri, der neben Fatma Aydemir („Dschinns“) in der zweiten Veranstaltung von WORD CUP RELOADED darüber sprechen wird, wie Hip-Hop ihr literarisches Schaffen beeinflusst hat. Wut und Melancholie, in schönster Sprache wiedergegeben, das sind diese Romane, das sind die Songs dieser Playlist.

III THE FUTURE

Die Playlist zur Veranstaltungsreihe begann mit dem Thema des Schmerzes und endet analog zur letzten Veranstaltung in der Utopie der Heilung. Denn wenn mehr Wunden offen sind, können diese besser heilen, so ähnlich lautet Apsilons Appell in „Baba“. Denn da, wo der Schmerz sitzt, liegt auch die Heilung, sagte Necati Öziri. Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz ist gleichzeitig der unmittelbare Ausweg daraus – „Moving through Pain“, erklärte mir meine Freundin.

Die Playlist schließt mit den hoffnungsvollsten Songs der Vergangenheit und Gegenwart ab: We gon be „Alright“ (Kendrick Lamar), denn vielleicht ist morgen der „Beste Tag meines Lebens“ (Kool Savas).

 

Meliha Cinar, Foto: Lisa Schmelz
TRACKS

1) Tupac – So Many Tears
2) Nas – Life's a Bitch
3) Azad – Heart­core
4) Outkast – E.T. (Extra­ter­restrial)
5) Sabrina Setlur – Du liebst mich nicht
6) Cora E – Schlüs­sel­kind
7) Haft­be­fehl – Wieder am Block
8) Ramzey – Unter dein Pulli
9) Liz – Allein sein
10) Ebow – K4L
11) Ansu – Vision
12) Apsi­lon – Baba
13) Kend­rick Lamar – Alright
14) Kool Savas – Beste Tag meines Lebens

THE CULTURE. HIP-HOP UND ZEIT­GE­NÖS­SI­SCHE KUNST IM 21. JAHR­HUN­DERT

29. FEBRUAR – 26. MAI 2024

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