Wie geht Frieden eigentlich? Die SCHIRN präsentiert mit PEACE eine Ausstellung mit zeitgenössischen Kunstpositionen zum Thema der Zeit.
Tauben, Regenbogenfarben und mit Blumen geschmückte Gewehre: Die Darstellung von Frieden erschöpft sich oft in bekannter Symbolik. Vom 1. Juli bis 24. September 2017 geht die Schirn Kunsthalle Frankfurt mit der diskursiven Gruppenausstellung PEACE einen anderen Weg und stellt vielmehr die Frage: Wie geht Frieden eigentlich? Die Ausstellung präsentiert Positionen von zwölf internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Jan de Cock, Minerva Cuevas, Ed Fornieles, Michel Houellebecq, Surasi Kusolwong, Isabel Lewis, Lee Mingwei, Katja Novitskova, Heather Phillipson, Agnieszka Polska, Timur Si-Qin und Ulay betrachten das Thema PEACE aus zeitgenössischer Perspektive.
Frieden zeigt sich nicht als Gegenstand, sondern als Prozess von Interaktion und Kommunikation – nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen allen Akteuren des Ökosystems. Diese Ansicht unterscheidet sich grundlegend vom humanistischen Weltbild, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Der Blick richtet sich nun auf die Umwelt: auf Wasser, Pflanzen, Tiere, auch auf die leblosen Dinge. Es findet eine Neubewertung der Hierarchien innerhalb des Ökosystems und der letztlich schädlichen Aneignungs- und Verwertungsstrategien des Menschen statt. Die in der Ausstellung versammelten Arbeiten widmen sich dieser Neubewertung und beleuchten über Umwege u. a. soziale Systeme wie die Sprache oder Rituale des Gebens, Schenkens und Nehmens, die das (Zusammen-)Leben der Menschen erst ermöglichen.
Was kann Frieden sein?
Die Ausstellung PEACE versteht sich als Impuls, darüber nachzudenken, was Frieden sein kann. So finden begleitend Live-Events wie etwa Vorträge, Lesungen, Poetry-Performances sowie Tanz- und Musikveranstaltungen statt. Zur Ausstellung entsteht die interaktive Website WWW.SCHIRN-PEACE.ORG, die unter anderem Essays von Prof. Chus Martínez, Dr. Mary Zournazi, Prof. Michael Marder, Texte zu den Werkpositionen, Videointerviews mit den Künstlerinnen und Künstlern sowie weiteres Dokumentationsmaterial des PEACE-Projekts vereinen wird. Im Vorfeld hat die Schirn ein neues PEACE-Logo ausgeschrieben. Die unabhängige Jury überzeugte der Entwurf in Form eines blauen Punktes, der jeweils eigenständig von Bekata Ozdikmen (Türkei) und Paul Müller (Deutschland) eingereicht wurde.
Auftakt der Präsentation ist die partizipative Installation The Letter Writing Project (seit 1998) des in Taiwan geborenen Künstlers Lee Mingwei (*1964). Sie behandelt Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse, aber auch die Angst, sie zu artikulieren. Diese können die Besucher in Briefen formulieren und sie in der Installation entweder für andere zum Lesen anbieten oder sie von der Schirn an bestimmte Adressaten verschicken lassen.
Ein Lied verschenken
Eine weitere Arbeit des Künstlers, die den Titel Sonic Blossom (seit 2013) trägt, wird gemeinsam mit vier Frankfurter Museen sowie der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main realisiert. Jeweils eine Woche lang werden dort Sängerinnen und Sänger ausgewählten Besuchern die Frage: "Darf ich Ihnen ein Lied schenken?" stellen und anschließend eines von fünf Liedern des Komponisten Franz Schubert vortragen. Sonic Blossom ist im Städel Museum (4.–9. Juli), im Deutschen Architekturmuseum (11.–16. Juli), im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main (15.–20. August), im Museum Angewandte Kunst (22.–27. August) und in der Schirn (19.–24. September) zu erleben.
Der thailändische Künstler Surasi Kusolwong (*1965) versteckt in seiner Installation Golden Ghost (2011/2017) Goldketten in Tonnen von Fadenresten der industriellen Textilproduktion, die die Besucher der Ausstellung suchen können. Deren goldene Anhänger wurden für die Ausstellung entwickelt und in kleiner Auflage gefertigt. Auf der Suche nach den Ketten in den Abfällen der Konsumindustrie wirft der Künstler die Frage nach Kunst, Ware und Wert auf. Das Interesse der estnischen Künstlerin Katja Novitskova (*1984) liegt in der Verbindung von Bildern des Humanen und technischen Daten. In ihrer Installation Pattern of Activation (planetary bonds) (2015) erscheinen automatisierte Wiegen für Babys wie Raumfahrtobjekte, ein riesiges Proteinmolekül in derselben Größe wie der Mars und automatisierte Spielzeuginsekten, die in Glaskäfigen mühevoll strampeln.
Utopie & Chaos
Der britische Künstler Ed Fornieles (*1983) hat eigens für die Ausstellung Sim Vol. 1: Existential Risk (2017) entwickelt – ein RPG (Role Playing Game). Anknüpfend an die simulierte Welt von Rollenspielen werden mögliche Formen einer post-apokalyptischen Utopie in Szene gesetzt. Der spieltheoretische Hintergrund schließt Ideen von Chaos, von Zufallsgeneratoren und Sprachspielen ein. Jeder Besucher ist eingeladen, sich anhand von Interviews mit einzelnen Spielern in deren jeweilige Position hineinzuversetzen und Szenarien selbst weiterzudenken.
Der von der zeitgenössischen Kultur und Konsumwelt faszinierte, in Berlin lebende Künstler Timur Si-Qin (*1984) eignet sich für seine digitalen Bildproduktionen bewusst Markenstrategien an. Seine Marke New Peace verwischt die Grenzen zwischen Spiritualität und Konsum. In der Ausstellung ist Si-Qin mit mehreren Arbeiten vertreten: mit einem Leuchtzeichen seines New Peace Pro Sign (2016), der zweiteiligen Arbeit On the Path to Mirrorscape (2016) sowie Mirrorscape Effigy (2016). Es sind Bilder von Landschaften zwischen Realität und Fiktion, zwischen Natur und Technik.
Ein Geschenk für Frankfurt
Der belgische Künstler Jan de Cock (*1976) hat unter dem Titel Everything For You, Frankfurt (2017) Skulpturen entwickelt, die er – ganz im Sinne des von ihm bereits in Hongkong oder Havanna ausgerufenen „Skulpturenkommunismus“ – als ein Geschenk an die Stadt, ihre Einwohner und Architektur versteht. Er baute im Vorfeld der Ausstellung aus einzelnen Elementen immer wieder neu kombinierte Skulpturen im Frankfurter Stadtraum kurzzeitig auf und hielt diese fotografisch fest. Sein Projekt präsentiert er in der Schirn in Form eines selbstproduzierten Magazins, das die Fotografien der Skulpturen dokumentiert und das die Besucher mitnehmen können.
Die polnische Künstlerin Agnieszka Polska (*1985) erkundet die Bedeutung und Wirkung von Sprache sowie deren Materialisierung. Sie ist mit der aus drei Videoarbeiten bestehenden Installation The Body of Words (2015) vertreten, in der sie die Entstehung des Menschen als sprechender Organismus und ich-bewusster Körper verhandelt und auf die Anfänge der Zivilisation verweist. Mit der Installation Clément (2016) hat der französische Schriftsteller Michel Houellebecq (*1958) seinem gleichnamigen verstorbenen Hund ein intimes Denkmal geschaffen. In der Mitte des dunklen, holzvertäfelten Raumes mit Teppichboden und Bildern an den Wänden befindet sich eine große Vitrine mit u. a. Spielzeugen – Devotionalien und Erinnerungen an seinen Gefährten.
Gestresster Pudel
Die britische Videokünstlerin Heather Phillipson (*1978) versetzt sich in die Psychologie und Physiologie von Tieren hinein. In der Filminstallation 100 % OTHER FIBRES (2016) heißt der Protagonist Gavin – ein Pudel, der aufgrund traumatischer Erlebnisse und Stress nicht mehr leben will. Im Zentrum steht sein Körper, der auch ein menschlicher Körper sein könnte. In das Changieren zwischen hündischer und menschlicher Körperlichkeit werden Gefühle wie Verlangen und Begehren, Sex und Fortpflanzung einbezogen.
Drei Arbeiten beschäftigen sich im letzten Ausstellungsraum mit dem Thema Wasser. Eine ganze Wand der Ausstellung füllt die mexikanische Konzeptkünstlerin Minerva Cuevas (*1975) mit einem großen Bild. Vor dem roséfarbenen Hintergrund mit hellblauer Bergkette ist in satter roter Schrift zu lesen: égalité (2004). Sofort ist das zugrunde liegende Logo der Marke evian zu erkennen, das die Künstlerin durch das französische Wort für Gleichheit ersetzt hat. Das Motiv des Wandbilds liegt als Poster für die Besucher zum Mitnehmen aus. Nach außen getragen, steht es für freie Verfügbarkeit statt Exklusivität und Vermarktung. In großen, leuchtenden Buchstaben bringt der Foto- und Performancekünstler Ulay (*1943) die Frage Whose water is it? (2012) an die Wand. Hinter den Buchstaben scheinen Währungszeichen wie €, $, £ auf. In den letzten Jahren behandelt Ulay in zahlreichen Werken das Thema Wasser als natürliche Ressource, aber auch als Stoff, aus dem der Mensch sich konstituiert. In einer zweiten Arbeit, die in der Ausstellung präsentiert wird, führt er auf einfache und fast poetische Weise die Komplexität des Materials vor: Ein Tropfen Wasser fällt auf eine heiße Oberfläche, verpufft und löst sich im Bruchteil einer Sekunde auf – ein Sinnbild des Tropfens auf dem heißen Stein.
Verführung der Sinne
Die PEACE-Ausstellung mündet in einer von Isabel Lewis (*1981) mit Sitzgelegenheiten und Pflanzen gestalteten Installation, die gleichzeitig Veranstaltungsort und Bühne ist. Als „Gastgeberin“ ihrer Occasions (dt.: Anlässe) richtet die ausgebildete Tänzerin Lewis dort Multimediaperformances aus. Sie erzählt, komponiert dann zu hörende Musik, singt, tanzt, „verführt“ die Sinne durch gemeinsam mit der Duftforscherin Sissel Tolaas entwickelte Aromen und serviert spezielle Drinks oder Menüs. Auf dieser Bühne wird im Rahmen ihrer Occasions und in weiteren Live-Events die zentrale Frage der Ausstellung diskutiert, wie Frieden eigentlich geht.
Mehr zur Ausstellung PEACE auf der Website WWW.SCHIRN-PEACE.ORG