Viele Dekaden bevor die Beatles nach Indien pilgerten, lange vor dem Hype um Gurus, Kommunen, gesunde Ernährung und "Zurück zur Natur!" hatte Deutschland bereits einen eigenen Propheten: Karl Wilhelm Diefenbach.
Gekleidet in ein weißes Gewand, um die Schultern eine schlichte Ledertasche, die Haare und der Bart lang, er selbst gern barfuß, zog Karl Wilhelm Diefenbach die Aufmerksamkeit auf sich -- und übte auf Künstler und Schriftsteller, von Hermann Hesse bis Egon Schiele, ebenso eine große Faszination aus wie auf die Klatschpresse und den ganz normalen Stadtbewohner. Und wie so viele selbsternannte Propheten nach ihm, so war auch Karl Wilhelm Diefenbach ein Geläuterter: 1873 erkrankt der Kunststudent an Typhus, noch im Krankenhaus entwickelt er eine Thrombose. Persönliche Schicksalsschläge, Krankheit und Schwächen begleiten die nächsten Jahre, von denen er nur wenige Monate an der Münchener Akademie verbringt.Einen Ausweg versprach die neu aufkommende vegetarische Bewegung, die sehr viel mehr als eine Ernährungsform zur Gesundung werden sollte. Überhaupt ist das ausgehende 19. Jahrhundert geprägt von einer Suche nach neuen Ideen; die christliche Kirche kann die Sehnsucht ihrer Gläubigen nach Identifikation, nach einer allumfassenden Weltanschauung nicht mehr vollständig stillen. Einige dieser neuen Ideen werden heute nur noch als lächerlich gescheiterte Randphänomene wahrgenommen, wie die Geschichte vom Aussiedler August Engelhardt, dessen Sinnsuche nach einem reinen Leben mit Kokosnüssen und Sonnenlicht der Schriftsteller Christian Kracht 2012 in "Imperium" mit einigem zynischen Spott beschrieb. Andere Vorstellungen haben sich als erfolgreicher erwiesen -- und auf die eine oder andere Weise den Weg in den Common Sense gefunden.
Karl Wilhelm Diefenbach pilgert regelmäßig zu Vorträgen von Eduard Baltzer, der seine eigene christliche Überzeugung mit einer großen Begeisterung für den menschlichen Fortschritt verknüpft, besucht Treffen der Freidenker und wird 1882 schließlich selber zum Vorbild, zum Prediger für andere. Kurz nach einer für ihn unglücklichen Eheschließung flüchtet Diefenbach auf den Hohen Peißenberg. Dort erlebt er eine Vision, die fortan sein Leben -- und später das zahlreicher Bewunderer und Kommunarden -- für immer verändern soll. Neben dem Verzicht auf Fleisch und Alkohol propagiert der nun zum Propheten gewordene Künstler einen vollständigen Rückzug aus dem gesellschaftspolitischen Leben, das ihm als so falsch erscheint. In seiner 1885 bei München gegründeten Kommune "HUMANITAS, Werkstätte für Kunst, Religion und Wissenschaft" predigt er neben einer gesunden Lebensweise den unbedingten Willen zur Gemeinschaft, der hartes Arbeiten ebenso einschließt wie den maximalen Verzicht auf Privatsphäre. Später zieht Diefenbach von Höllriegelskreuth nach Wien, wo sich ebenfalls schnell eine Gemeinschaft um den charismatischen Künstler zusammenfindet.Seine Anhänger bewundern und fürchten seine Radikalität. Mangelnde Konsequenz kann man Diefenbach nicht vorwerfen -- seine Ideale sind für ihn unmittelbare Handlungsanweisung, wobei er andere durchaus härter beurteilen kann als sich selbst. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er Primus inter Pares, Erster unter Gleichen ist -- einer, der sich öfter zum Leidenden stilisiert, der Bilder auf Grund körperlicher Gebrechen nicht fertigstellen kann oder der sich schon von der Anwesenheit der "Weiber" gestört fühlt, wie sein zeitweiliger Anhänger Arthur Roessler in einem Brief über den Maestro berichtet.
Trotz oder vielleicht gerade wegen seines ambivalenten Charakters wird Karl Wilhelm Diefenbach so etwas wie eine lebende Legende: Einem Guru gleich pilgern Menschen zu ihm, dem charismatischen Propheten. Einige bleiben eine Weile, andere gehen schon nach wenigen Tagen wieder -- enttäuscht und geläutert oder beflügelt; manch einer, um sich nach einer noch radikaleren oder esoterisch abgedrehten Weltanschauung umzusehen, ein anderer, um später selbst zum Jesus-Propheten zu werden. Diefenbach und seine Ideen, sein Leben und seine Arbeit werden zur verführerischen Projektion: Bei ihm, so die Hoffnung, könnte man zum Einklang mit der Natur zurückfinden, zur vollen Identifikation mit der ureigenen menschlichen und mit der äußeren Natur. Tiefe Bewunderung findet Diefenbach auch für seine Bilder, die sein mythisches Verständnis vom Menschen, von Natur und Religion widerspiegeln: Klein ist der Mensch, der sich der Naturgewalt, der göttlichen Vision gegenübersieht, umso größer aber sind die Tempel und Kolosse, die Diefenbach so oder ähnlich erbauen lassen wollte. Nebel, Sturm und Dunkelheit beherrschen die Leinwand, auf der er die jeweiligen Objekte einzeln in den Fokus rückt. Zum bekanntesten Werk aber wird "Per Aspera Ad Astra", der 68 Meter lange Fries, in dem Menschen und Tiere, zu Fuß oder in Kutschen und mit Posaunen und Trompeten als Schattenrisse zum Tempel pilgern.Die eigene Kommune wurde Karl Wilhelm Diefenbach regelmäßig zu eng, so dass er unter anderem nach Ägypten pilgerte, wo zahlreiche seiner Tempelzeichnungen entstanden. Ab 1900 lebt er auf Capri -- zwar ohne seine Kommune, die in Wien inzwischen Bankrott gegangen ist, trotzdem bewundert von der Bevölkerung vor Ort. In Deutschland und Österreich ranken sich derweil weiter Mythen und Legenden um den sagenhaften Künstler und Propheten, der so viele verwirrt, irritiert, inspiriert hat. Er selbst stirbt 1913 im Alter von 62 Jahren auf der italienischen Insel.
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