Max Hollein erzählt die Geschichte der SCHIRN: Im ersten Beitrag blickt er zurück in die Historie, auf Schlagzeilen wie „Mord am Dom“ und die ersten Ausstellungen unter Christoph Vitali.
Die SCHIRN KUNSTHALLE wurde 1986 gegründet. Verglichen mit anderen Frankfurter Kunstinstitutionen, Museen oder Kunstvereinen, die ihr 100jähriges, 150jähriges oder bald 200jähriges Bestehen feiern, ist die SCHIRN insofern eine junge Institution, stolz darauf, langsam erwachsen zu werden.
Galt es beim zehnjährigen Jubiläum, erstmals Resümee zu ziehen, wurde beim 15jährigen durchaus auch gefeiert, dass es die SCHIRN überhaupt noch gibt. Beim 20jährigen Jubiläum 2006 konnte mit Recht gesagt werden: Die SCHIRN hat sich nicht nur behauptet, sie hat sich etabliert. Im Jahr 2011 feiert sie mit der Jubiläumsausstellung „Surreale Dinge“ ihr 25jähriges Bestehen.
Sie nimmt nicht nur einen bedeutenden Platz im Frankfurter Kulturgeschehen ein, sondern hat sich zu einem der wesentlichen Ausstellungsräume in Deutschland und zu einer vielbeachteten Institution im europäischen Kunstbetrieb entwickelt. Seit der Gründung wurden rund 200 Ausstellungen gezeigt, die insgesamt von 6,3 Millionen Besuchern gesehen wurden. So geläufig der Name SCHIRN heute ist, so wenig ist seine Bedeutung allgemein bekannt. Diese führt tief in die Geschichte der Stadt.
Die SCHIRN steht auf altem Boden. Erhabenes und Profanes waren an diesem zentralen städtischen Ort jahrhundertelang dicht benachbart. Zwischen Frankfurts Rathaus, dem Römer, und dem Dom verlief der Krönungsweg, den die künftigen Kaiser auf ihrem Weg zur Krönung feierlich abschritten, eine enge, lange Zeit ungepflasterte Gasse. Daneben verkauften die Metzger ihre Waren an offenen Ständen, sogenannten Schrannen oder Schirnen. Ihnen verdankt die SCHIRN ihren Namen.
Mit dem Krieg und der Zerstörung der Altstadt 1944 ist dieses historische Ensemble verschwunden. Nahezu 40 Jahre lang war hier Brachland, im besten Fall ein Parkplatz. Fotografien der 50er Jahre zeigen an diesem historischen Ort sogar eine Tankstelle. Erst der nach langen Diskussionen von dem Architektenbüro Bangert, Jansen, Scholz & Schultes BJSS entworfene, über 140 Meter lange und nur 10 Meter schmale und ebenso hohe Gebäudekomplex der SCHIRN schloss diese Baulücke zwischen Römer und Dom. „Wir haben Frankfurt wieder ein Herz eingesetzt", sagte Oberbürgermeister Walter Wallmann 1986 bei der Eröffnung der SCHIRN.
Nicht alle sahen das so, die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte damals legendär: „Mord am Dom", weil der Bau waffengleich auf St. Bartholomäus zu zielen schien. Ähnlich kritisch äußerte sich die Frankfurter Rundschau, die die SCHIRN als einen „mittelalterlichen Rammbock gegen den Domturm" beschrieb. Die taz ortete einen „geduckten Betonriesen" hinter „Wallmanns Zuckerhäuschen".
Die schmale, hohe, mit hellen Travertinplatten verkleidete postmoderne Architektur spielt mit dem Drinnen und Draußen, gewährt immer wieder verblüffende Durchblicke auf den gotischen Dom und das nun abgerissene Technische Rathaus -- mit großem Interesse verfolgen wir die Debatte um den Bau eines Stadthauses an dessen Stelle. Mit dem langgezogenen Satteldach, der offenen Wandelhalle und der Kuppel ist die SCHIRN ein Zitat, eine ferne Reminiszenz an die verschwundene Altstadt, zeichnet aber freilich weder die ehemaligen Straßengrundrisse noch einzelne Silhouetten der einst hier stehenden berühmten Häuser rekonstruierend nach.
Die Gründung der SCHIRN fiel in eine kulturpolitisch sehr fruchtbare Zeit. „Kultur für alle" lautete die Devise von Hilmar Hoffmann, der das kulturelle 290 Frankfurter Museen stellen sich vor Leben der Stadt von 1970 bis 1990 als Kulturdezernent prägte. Auf seinen Enthusiasmus und Gestaltungswillen gehen sowohl die Gründung des Museumsufers als auch der SCHIRN zurück. Mit dem Museumsufer, in das sich auch die SCHIRN inhaltlich einfügt, wurde ein Konzept geschaffen, das maßgeblich zur Rezeption Frankfurts als Kulturstadt beigetragen hat und dessen Potential bis heute genutzt und weiterentwickelt wird.
Die SCHIRN wurde mit der Absicht gegründet, auch in Frankfurt große Ausstellungen zeigen zu können. Diesen in seiner Deut- und Formbarkeit diffusen Zweck verstand Gründungsdirektor Christoph Vitali, der das Haus von 1986 bis 1994 leitete, schnell zu bündeln. Von Anfang an gab er der SCHIRN ein hervorragendes Programm, das weit über die Stadt hinaus ausstrahlte. Bereits die erste Ausstellung der SCHIRN mit dem Titel „Die Maler und das Theater im 20. Jahrhundert" mit Werken von Giacomo Balla, Fernand Léger, Edvard Munch, Pablo Picasso, Robert Wilson und anderen wurde zu einem großen Erfolg. Ebenfalls im Eröffnungsjahr sorgte die Auftaktausstellung der Reihe „Prospect" von Peter Weiermair, die in einer bisher in Frankfurt nicht gesehenen Größenordnung aktuelle Werke der Gegenwart zeigte, für großes Aufsehen in der Kunstszene.
Einen weiteren Glanzpunkt stellte die Retrospektive von Wassily Kandinsky im Jahr 1989 dar, die von knapp 190.000 Besuchern gesehen wurde. Anlässlich dieser Ausstellung kam es erstmals vor dem Hintergrund der sich anbahnenden Perestrojka zu einer Zusammenarbeit mit führenden osteuropäischen Museen.
Damals wurde in der SCHIRN die Grundlage für eine Kooperation mit russischen Wissenschaftlern und Institutionen gelegt, die auch für die folgenden Jahre wegweisend blieb. Aus dieser Zusammenarbeit entstand 1992 die Ausstellung „Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915--1932". Mit ihr wurde anhand von über 1000 Exponaten erstmals in großem Umfang die Ideenwelt jener Epoche beleuchtet, die die Kunst des 20. Jahrhunderts revolutioniert hat. Vielen weiteren Künstlern wurden in den ersten Jahren Ausstellungen gewidmet. So präsentierte die SCHIRN Retrospektiven von Jean Dubuffet, Edward Hopper, Antoni Tàpies oder Eduardo Chillida, Zeichnungen von Roy Lichtenstein, Gemälde, Plastiken und Zeichnungen von Joan Miró, Marc Chagalls russische Jahre, Edvard Munchs Schaffen in Frankreich und vieles mehr.
Christoph Vitalis Nachfolger Hellmut Seemann zeigte in den Jahren von 1994 bis 2001, wie man in einer ökonomisch schwierigen Lage die Eigenständigkeit der KUNSTHALLE virtuos behaupten und allen widrigen Umständen zum Trotz wesentliche Akzente in Bezug auf Durchmischung und Reichweite des Programms setzen konnte. Neben beeindruckenden Präsentationen von Werken zeitgenössischer Künstler wie der raumgreifenden Installationen von Joseph Kosuth oder Duane Hanson sowie Themenausstellungen wie der dem deutschen Symbolismus gewidmeten Schau „SeelenReich", „Goethe und die Kunst" sowie „Sehnsucht nach Glück. Wiens Aufbruch in die Moderne" rückten auch andere Epochen stärker in den Fokus. So widmeten sich Ausstellungen der Kunst der Picener, den Schätzen der Grabstätte des Zhao Mo in Guangzhou oder der italienischen Kunst der Renaissance und des Barock.