Must-See: Surreale Filmhighlights mit fliegenden Hüten, schwankenden Wänden und geschrumpften Hochhäusern.

Surrealistischen Film verbindlich zu definieren (wo sollte man anfangen? Bei Inhalt oder Form?), ist ähnlich schwierig, wie surrealistische Kunst in eine Schublade zu stecken. Man könnte darüber hinaus noch die These aufstellen, dass das Medium Film mit seinen Möglichkeiten der Überblendung, Belichtung oder Verzerrungen an sich bereits surreale Eigenschaften besitzt. Eine Liste filmischer Highlights.

1. La Coquille et le clergyman (Germaine Dulac, 1928)

Bereits 1928, ein Jahr bevor er durch die Veröffentlichung von Luis Buñuels und Salvador Dalís “Un Chien Andalou“ zunächst filmgeschichtlich überschattet wurde, erschien mit „La Coquille et le clergyman“ (Die Muschel und der Kleriker) jenes Werk, das heute gemeinhin als der erste surrealistische Film bezeichnet wird. Dulacs Adaption einer Idee des Dramatikers Antonin Artauds fasziniert mit ihrer Bildgewalt noch heute. Die Überblendungen, Doppelbelichtungen, Slow-Motion-Aufnahmen und Verzerrungen entfalten in ihrer Inszenierung der nahezu freudianisch inspirierten Erzählung über die libidinösen Sehnsüchte eines Geistlichen eine meisterhafte Dynamik.

Germaine Dulac, La Coquille et le clergyman (Filmstill),1928, Image via www.anothergaze.com

2. Vormittagsspuk (Hans Richter, 1928)

Wie schwierig die Zuordnung von Kunstströmungen werden kann, zeigt sich bei diesem Klassiker des Avantgarde-Films. Beinahe ein Jahrhundert ist es her, dass der Berliner Dada-Künstler Hans Richter mit seinem „Vormittagsspuk“ die Welt der unbelebten Dinge in Aufruhr versetzte. Mal wird der Film als dadaistisches Werk interpretiert, mal dem Surrealismus zugeordnet: Da fliegen Magritte-gleiche Hüte durch die Gegend, die sich partout nicht auf die Köpfe ihrer Träger setzen wollen, da rollen sich Löschschläuche von alleine ab und wieder auf und verschieben sich Zielscheiben vor jedem Abzug aufs Neue. Ein Film, der in seiner Sprache kunstvoll-formal und in seiner Albernheit zugänglich wie einschlägige Unterhaltungsstücke seiner Zeit ist. Seinerzeit wurde das Werk von den Nationalsozialisten als entartete Kunst deklariert und der ursprüngliche, von Paul Hindemith komponierte Soundtrack zum Stummfilm zerstört.

© Hans Richter | Vormittagsspuk, Image via www.uni-bremen.de

3. Un chien andalou (Luis Buñuel und Salvador Dalí, 1929)

Der surrealistische Klassiker, der natürlich in keiner Liste fehlen darf. Dalí und Buñuel, die sich bereits seit ihrer Studienzeit kannten, verfilmen hier eigene Träume, die sie mittels der Technik des „automatischen Schreibens“ noch weiter verfremdet und ineinander verwoben hatten. Aller Erklärungsversuche und Rationalisierungen zum Trotz: der Film sollte explizit nicht symbolisch, logisch oder psychologisch erklärbar sein. Zur Uraufführung füllte Buñuel seine Taschen mit unzähligen Steinen – aus Angst vor wütenden Reaktionen des Publikums. Diese blieben aus – im Kino hätten nur „Aristokraten und Künstler“ gesessen - und der Rest ist Geschichte: Die Rasierklinge, die das Auge einer Frau zerschneidet, ging in den universellen Bilderkanon des Kinos ein.

4. Meshes of the afternoon (Maya Deren und Alexander Hackenschmied, 1943)

Ein Telefon, ein Messer, eine rote Kornblume sind die unguten Vorboten in diesem Kurzfilm, den die Avantgarde-Filmemacherin Maya Deren zusammen mit Alexander Hackenschmied inszenierte. Ihre Protagonistin schicken die Künstler*innen über Treppenstufen und an schwankenden Wänden vorbei, die nicht preisgeben, ob sie von allein die Schwerkraft außer Kraft setzen oder ob es die psychischen Anspannungen sind, denen die räumliche Physis immer wieder nachgeben muss. „Meshes of the afternoon“ ist wohl der bekannteste von Derens kleinem, aber einflussreichem Avantgarde-Kurzfilm-Oeuvre. Wie bei vielen ihrer Filme arbeitete Deren auch hier mit dem japanischen Komponisten Teiji Ito zusammen, der „Meshes of the afternoon“ mit wenigen Klängen seine leichtfüßig-albtraumhafte Atmosphäre verleiht. Ein surrealistischer Film noir am hellichten Tag.

5. Geography of the Body (Marie Menken und Willard Maas)

Durch eine Lupe aufgenommene Nahaufnahmen von nackten Körpern und ein surrealistisches Gedicht. Der Film „Geography of the Body“ von Marie Menken und Willard Maas enstand im selben Jahr wie Derens „Meshes of the Afternoon“ und zeigte sich als ähnlich einflussreich für den Experimentalfilm. Ob er nun als klassisch surrealistisch bezeichnet werden kann, bleibt dahingestellt. Er war jedenfalls der erste weiter verbreitete Underground-Kunstfilm, der bis heute fester Bestandteil im Lehrplan für Filmstudent*innen ist. Zu sehen sind Körperteile, die so detailliert fotografiert sind, dass sie wie Landschaften erscheinen, kommentiert von der monotonen Stimme des surrealistischen Dichters George Barker, der humorvoll die dargestellte Geographie der Körper begleitet.

Marie Menken und Willard Maas, Geography of the Body (Filmstill), 1943, Image via www.ji-hlava.com

6. Windsong (Madeline Tourtelot, 1958)

1957 trafen die amerikanische Avantgarde-Filmemacherin Madeline Tourtelot und der Komponist mikrotonaler Musik sowie Instrumentenbauer Harry Partch erstmals aufeinander. Die Bekanntschaft mündete in einer über sechs Filme andauernden künstlerischen Kollaboration, dessen Auftakt Tourtelots wohl bekannteste Arbeit „Windsong“ aus dem Jahr 1958 markiert. Lose angelehnt an den griechischen Mythos von Apollon und Daphne, inszeniert Tourtelot in kontrastreichen, expressionistisch anmutenden Schwarzweiß-Bildern augenscheinlich die Jagd des Apollon (Rudolph Seno) auf Daphne (Tourtelot selbst). Die Sanddünen des Lake Michigans, die als Drehort dienten, erscheinen hier dank der surrealistischen Bildsymbolik und des perkussiven, mikrotonalen Scores von Harry Partch wie ein (alb-)traumhafter Unort.

Madeline Tourtelot, Image via doorcountypulse.com

7. The Crimson Permanent Assurance (Terry Gilliam, 1983)

Diverse Werke von Monty Python-Mitglied Terry Gilliam tauchen dann und wann in surrealistischen Filme-Listen auf, dieser erfüllt eine ganze Reihe an Kriterien: Die Geschichte um eine altehrwürdige Versicherungsgesellschaft, in der irgendwann aus heiterem Himmel absurde Diskussionen über den Sinn des Lebens losgetreten werden, der permanente Spott über das bisweilen bizarre Leben im Kapitalismus plus ein grotesker Piraten-Überfall schreien geradezu „surreal“! Und sogar das spontane Moment kommt, im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, zum Zuge – Gilliams überredete seine Filmcrew, live aufzunehmen. Was ursprünglich eine Szene in „Monty Python’s The Meaning of Life“ (Der Sinn des Lebens) werden sollte, wurde schließlich zum Vorfilm des „Life of Brian“.

8. Filme von Jan Švankmajer

Der tschechische Filmemacher Jan Švankmajer kann zwar allein biografisch bedingt kein Surrealist erster Generation sein, er selbst versteht sich aber als surrealistischer Künstler. Einen einzigen der mehrere Dutzend umspannenden Stop-Motion-Filme herauszugreifen, die oftmals in Kooperation mit Švankmajers Ehefrau Eva Švankmajerová entstanden, fällt schwer. Zu den bekanntesten zählt die Neuadaption von „Alice“, in den Švankmajer all das reinpacken wollte, was ihm in den bisherigen Verfilmungen des Märchens fehlte: Moralisches, Ambivalenzen, Düsternis. Ausgesprochen sehenswert sind aber auch die zahllosen Kurzfilme vom Künstler und dem Duo, von Frühwerken wie „The Flat“ über schauderhaftes Fußballschauen in „Virile Games (Mužné hry)“ bis hin zu den berühmten Essensanimationen, wie in „Breakfast (Food 1992)“.

9. Everlong – Foo Fighters (Michel Gondry, 1997)

Immer wieder wird Michel Gondry als zeitgenössisches Beispiel surrealistischer Filmemacher angeführt. Ob seine verwunschen-fantastischen Sets tatsächlich dem Grundgedanken des Surrealismus entsprechen, darüber lässt sich streiten. Am nächsten dran an jenem morbide-faszinierten Spiel mit der Realität ist vielleicht gar nicht einer seiner Spielfilme, sondern dieses weit vor dem Debüt gedrehte Musikvideo für die Foo Fighters, in dem in schöner Gruselmärchenmanier Hände wie Ängste plötzlich überdimensional groß und Frauen durch Abreißen ihrer Gummigesichter zu Männern und wieder zu anderen werden.

10. Being John Malkovich (Spike Jonze, 1999)

Die erste Zusammenarbeit von Spike Jonze und Drehbuchautor Charlie Kaufmann ist eine brillante, absurd-surrealistische Tragik-Komödie: Der erfolglose Puppenspieler Craig (John Cusack) nimmt einen öden Job in der 7 ½ Etage (!) eines New Yorker Hochhauses an, verliebt sich dort unsterblich in seine Kollegin Maxine (Catherine Keener) und findet in seinem Büro einen geheimen Zugang in das Bewusstsein des Schauspielers John Malkovich. Der groteske Plot verwebt Spielwiesen des Surrealismus (das Unbewusste, die Zertrümmerung bürgerlicher Konventionen) und philosophische Identitätsfragen zu einer bitterbösen Mélange, die auch knapp zwanzig Jahre nach Entstehung nichts von ihrer Originalität und Finesse eingebüßt hat.

Fantastische Frauen

SURREALE WELTEN VON MERET OPPEN­HEIM BIS FRIDA KAHLO

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