"FLESHBACK", Belinda kazeem kaminski

DOUBLE FEATURE

Das Double Feature versteht sich als Plattform für verschiedene Strömungen und Ausdrucksformen der Film- und Videokunstproduktion. Seit mehr als acht Jahren lädt die SCHIRN nationale und internationale Film- und Videokünstler*innen ein, ein Werk aus ihrem eigenen Schaffen zu präsentieren, gefolgt von einem Film ihrer Wahl. In der SCHIRN wurden bereits Filme und Videoarbeiten von über 60 Künstler*innen gezeigt. Die Videos und Gespräche mit den bisher beteiligten Künstler*innen sind über den YouTube-Kanal der SCHIRN unter dem Titel "Video Art" abrufbar. Auch das SCHIRN MAGAZIN liefert regelmäßig diskursive Beiträge mit redaktionellem Schwerpunkt Videokunst zur Double Feature-Reihe.

Double Feature versteht sich als Plattform für ganz unterschiedliche Tendenzen und Ausdrucksformen der künstlerischen Filmproduktion

BELINDA KAZEEM-KAMIŃSKI

In ihrer Arbeit verwebt Belinda Kazeem-Kamiński Schwarze feministische Theorie mit einer recherchebasierten und prozessorientierten investigativen Praxis, die sich den Bedingungen Schwarzen Lebens in der afrikanischen Diaspora widmet. Kazeem-Kamiński setzt sich dabei bewusst über klare Grenzen zwischen Dokumentation und Spekulation hinweg, indem sie verschiedene Räume und Zeiten miteinander verknüpft. In der SCHIRN präsentiert die Künstlerin gleich zwei Filme. In "The Letter" (2019, 18 Min.) untersucht Kazeem-Kamiński die Kraft des Archivs bei der Bildung kollektiver Erinnerungen. Inspiriert von einem offenen Brief von Yaarborley Domeï, der im Oktober 1896 in den Wiener Caricaturen veröffentlicht wurde, folgen drei Empath*innen den Spuren von Yaarborley Domeï's Leben. Die Filmemacherin hebt dabei die Gewalt des Archivs hervor, die versucht, Beziehungen und Erlebnisse zu unterdrücken und zu löschen. Der zweite Film des Abend "Fleshbacks" (2021, 6 Min.) ist eine dreiteilige Ergänzung zu "The Letter" und zeigt Protagonist*innen in verschiedenen städtischen Umgebungen. Gekleidet in schwarze Overalls und mit Requisiten wie einer Lupe, restauratorischen Werkzeugen und schwarzen Lederhandschuhen ausgestattet, bewegen sie sich durch die Stadt und folgen einem unsichtbaren Ruf. Die Grenzen zwischen Wien und Accra, zwischen damals und heute, zwischen hier und dort, verschwimmen und werden letztendlich obsolet.

Belinda Kazeem-Kamiński, The Letter (Filmstill), 2019

EGLĖ BUDVYTYTĖ

Eglė Budvytytė arbeitet an der der Schnittstelle von bildender und performativer Kunst. Im Zentrum ihres Schaffens steht die Auseinandersetzung mit Normativität, Geschlecht und sozialen Rollen im öffentlichen Raum. Die Künstlerin arbeitet multimedial und erforscht mittels Lieder, Gedichte, Videos und Performances das Verhältnis zwischen dem Körper, Publikum, der Umwelt und dem Ökosystem. In der SCHIRN präsentiert sie ihre jüngste Videoarbeit „Songs from the compost: mutating bodies, imploding stars“ (2020, 28 Min.), die in Kollaboration mit Marija Olšauskaitė und Julija Lukas Steponaitytė entstand. Der Film wurde an der Kurischen Nehrung gedreht, einer Sandenge an der Ostsee. In diesem Setting von Kieferwäldern, Dünen und Wasser, versuchen sich die non-binären Darsteller*innen in einer elegischen Choreografie ihrer Umwelt anzunähern. Sie erforschen die Dimensionen eines symbiotischen Lebens und eines nicht-menschlichen, hybriden Bewusstseins. Die Horizontalität der Choreografie hebt die übliche Vertikalität der menschlichen Figur auf und lässt sie sich in der Landschaft entfalten. Entscheidend ist in „Songs from the compost: mutating bodies, imploding stars“ die intime Soundebene, die sich aus hypnotischem Sprechgesang verschiedener Stimmen zusammensetzt. In dieser referiert Budvytytė u. a. auf die Mikrobiologin Lynn Magulis und die Science-Fiction Autorin Octavia Butler, die sich mit Symbiosen und Mutation auseinandersetzen.

Eglė Budvytytė, Songs from the compost: mutating bodies, imploding stars (Filmstill), 2020

JULIKA RUDELIUS

Die Videokünstlerin Julika Rudelius erkundet in ihren Arbeiten die verbale Kommunikation, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie sie zu sozialen Hierarchien und Verhaltensmustern beiträgt. Dies verbindet sie mit der Erforschung von Fragen der Sexualität, der sich verändernden Dynamik von Sex und Macht und dem kulturellen Bedürfnis, sexuelle Details verbal auszudrücken. In ihrem Werk "It is true because I feel it" (2021, 17:26 Min.) werden anonyme Personen in einem dunklen, immersiven und abgeschlossenen Raum zusammengebracht. Sie weisen keine sichtbaren Attribute von Statushierarchien wie Schönheit, Macht oder Reichtum auf. Ausgehend vom menschlichen Körper als Ort der Emotionen begeben sich die Teilnehmer*innen gemeinsam auf die Suche nach zwischenmenschlicher Intimität und ergründen in achtsamen Begegnungen, emotionalen Ausbrüchen und unaufdringlichen Berührungen den eigenen Schmerz. Die intimen Interaktionen sind geprägt von einer Ambiguität von inszenierten und spontanen Situationen und sollen als Heilmittel in einer Zeit des Hyperindividualismus dienen, in der Einsamkeit zu einem der größten sozialen Probleme westlicher Gesellschaften wächst. Durch die obskure und zeremoniell anmutende Umgebung betont Rudelius das Spirituelle. Sie fragt danach, ob Intimität als Disziplin lehr- und lernbar ist und inwiefern das bloße Zeigen von Intimität als Ersatz für die „echte“ Zugehörigkeit eintreten kann. Gleichzeitig wird in der Konfrontation männlicher und weiblicher Akteur*innen die Geschlechterdiskriminierung zu einem zentralen Thema der Katharsis.

"it is true because i feel it", Filmstill, Julika Rudelius

PINAR ÖĞRENCI

Die Künstlerin und Filmemacherin Pınar Öğrenci erforscht in ihren Arbeiten die Geschlechterkulturen in verschiedenen Regionen im Kontext von Vertreibung, Überleben und Widerstand. In der SCHIRN präsentiert sie ihren Film "Aşît" ("The Avalanche", 2022, 60 Minuten), den sie im Rahmen von documenta fifteen realisiert hat. In "Aşît" untersucht Öğrenci verschiedene Ursachen der Emigration in der Heimatstadt ihres Vaters in einem Berggebiet der kurdischen Region Van im Osten der Türkei. Der Titel, der auf Kurdisch "Lawine" oder "Katastrophe" bedeutet, bezieht sich sowohl auf eine Lawine, die die Berggemeinde bedrohte, als auch auf "Medz Yeghern", den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915, wobei der Begriff wörtlich als "Große Katastrophe" übersetzt werden kann. Die Künstlerin nutzt mündliche Überlieferungen, Fotoarchive und aktuelle Bilder der Region, um Spuren und Traumata im Land, in Bräuchen, Musik, Mythologien und Memoiren aufzudecken. Die beeindruckenden Landschaftsbilder werden von Liedern begleitet, die der armenische Musiker Hayrik Muradian, der 1918 aus Van floh, gesammelt hat. "Aşît" ist teilweise inspiriert von Stefan Zweigs letztem Buch vor seinem Tod im Exil, dem Psychothriller "Das königliche Spiel" (1941) über einen Anwalt, der von den Nazis in einem Hotelzimmer gefangen gehalten wird und als Überlebensstrategie unter der faschistischen Herrschaft im Geiste Schach spielt.

Pınar Öğrenci, Aşît (Filmstill), 2022

CHRISTIN BERG

Die Filmregisseurin, Produzentin und Drehbuchautorin Christin Berg beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit urbanen Räumen und entlegenen Naturgebieten, anhand derer sie die paradoxen Zustände des Menschen untersucht. In der Schirn zeigt sie ihren Film Beyond the Now (2022, 19 Min.). Die Arbeit vereint im Kurzfilmformat Reflexionen über Umweltzerstörung, Verlust von Empathie und soziale Sprachlosigkeit. Beyond the Now spielt zeitlich zwischen dem Jetzt und einer Zukunft und veranschaulicht die Diskrepanz zwischen dem Bestehenden und einer vergangenen Hoffnung. Den Ausgangspunkt der Arbeit bilden landschaftliche Panorama-Aufnahmen, die zwar von Drohnen aufgenommen wurden, doch zugleich Erinnerungen an die romantische Verehrung der Naturerhabenheit wecken. Indem der Film zunehmend Menschen ins Bild setzt, richtet er seinen Fokus auf die Spuren, die unsere Gesellschaft in der Natur hinterlässt. Ein Szenenwechsel in eine Bar, in der zwei Frauen eine nonverbale Performance vollziehen, verweist auf die Gegenwart, in der Sprachlosigkeit sowie Resignation die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel und medialen Katastrophenbildern dominieren. Zugleich symbolisiert die Darbietung der Protagonistinnen den Kreislauf von Geburt, Wachstum, Dekonstruktion sowie Tod und kennzeichnet den Menschen als natürliches Wesen.

Christin Berg, Beyond the now (Filmstill), 2021

MARIANNA SIMNETT

Marianna Simnett versteht sich als eine multidisziplinäre bildende Künstlerin, die in Berlin lebt und arbeitet. Simnett verwendet lebendige und viszerale Mittel, um den Körper als einen Ort der Transformation zu erforschen. In psychologisch aufgeladenen Werken, die sowohl sie selbst als auch den Betrachter herausfordern, stellt sich Simnett radikal neue Welten vor, die mit ungezähmten Gedanken, seltsamen Geschichten und Wünschen gefüllt sind. In der SCHIRN präsentiert sie die Filme "Prayers for Roadkill" (2022, 6 Min.) und "The Severed Tail" (2022, 22 Min.) Der Titel des ersten Films geht auf ein Zitat von der Konzeptkünstlerin Adrian Piper zurück, in der sie ihre Empathie und Faszination für die Mikrogewalt zum Ausdruck bringt, die sich unter den Rädern eines Autos abspielt. Der Stop-Motion-Animationsfilm bedient sie sich der Ästhetik alter Kinderfernsehprogramme um die emotionalen und materiellen Verstrickungen von Liebe und Grausamkeit zu erforschen. Der zweite Film wechselt zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen, um die Geschichte der radikalen Reise eines Ferkels durch verschiedene Schichten von Fetischwelten zu erzählen. The Severed Tail ist eine Geschichte über Verwandlung und Sehnsucht und erforscht die Unterschiede zwischen den Arten - und ihre gegenseitige Verwandlung. Um das Werk zu schaffen, tauchte Simnett in die Pup Play- und LARP-Community in Berlin ein.

Marianna Simnett, The Severed Tail, 2022 (video still). Courtesy the artist and Société, Berlin.

TEKLA ASLANISHVILI

Die Künstlerin, Filmemacherin und Essayistin Tekla Aslanishvili untersucht in ihren Arbeiten weit verbreitete Praktiken der automatisierten Produktion und des algorithmischen Managements globaler städtischer Räume. Die Werke von Aslanishvili bewegen sich an der Schnittstelle von infrastrukturellem Design, Geschichte und Geopolitik. In der Schirn präsentiert sie ihren Film "A State in a State" (2022, 47 Min.); einen experimentellen Dokumentarfilm, der den Bau, die Störung und die Fragmentierung von Eisenbahnen im Südkaukasus und in der kaspischen Region verfolgt. Der Film betrachtet die Eisenbahn als technische Verwirklichung der fragilen politischen Grenzen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden. Mit Blick auf historische und aktuelle Widerstandspraktiken untersucht "A State in a State" das Potenzial von Eisenbahnen für den Aufbau eines anderen Infrastrukturbewusstseins und für dauerhafte transnationale Verwandtschaft zwischen den Menschen, die um sie herum leben und arbeiten.

Tekla Aslanishvili, A State in A State

FLO MAAK

Der Fotograf und Videokünstler Flo Maak beschäftigt sich in seinen Arbeiten seit über 15 Jahren mit queerer Geschichte, Essen und Körperpolitiken. Sein Kurzfilm "Hang On, Hang Tight" (2022, 36 Min.) thematisiert einen fast vergessenen Aufstand während des Mardi Gras im Jahr 1955, bei dem sich queere Besucherinnen und Besucher einer Bar in New Orleans gegen die Schikanen der Polizei zur Wehr setzten. Der Vorfall ist heute nahezu in Vergessenheit geraten und nur mit wenigen Dokumenten belegt. "Hang On, Hang Tight" rekonstruiert die Ereignisse anhand einer Vielzahl von Interviews mit Zeitzeugen und Historikern. Die Berichte werden mit Sequenzen einer Tanzchoreografie überschnitten, die gemeinsam mit dem Choreographen Diogo de Lima entwickelt wurde und eine Entfaltung der Ereignisse suggeriert. Aufnahmen bei Nacht zeigen die berühmte Bourbon Street als Austragungsort des damaligen Aufstandes und zentrale Anlaufstelle für Bars und Striplokale im Herzen der Stadt menschenleer. Einzig Überreste einer ausschweifenden Partynacht sind zu sehen und verbinden Gegenwart und Vergangenheit der historischen Partymeile. Der Film entstand in Kooperation mit dem dänischen Filmemacher und Künstler Lasse Lau (*1974), mit dem Maak seit 2006 gemeinsam Projekte realisiert.

Flo Maak, Hang On Hang Tight

DRIANT ZENELI

Driant Zeneli (*1983) hat bereits zweimal den albanischen Pavillon der Venedig-Biennale bespielt. Sein überwiegend filmisches Werk wird getragen von einem humanistischen Ethos, das im Bau von sozialen Utopien und dem ständigen Scheitern an deren Umsetzung besteht. Von märchenhaften Wesen und fabelhaften Geschichten handelt die zuletzt entstandene Trilogie, die Zeneli in drei historischen, brutalistischen Gebäuden in drei Städten des Balkans spielen lässt – in Pristina, in Tirana sowie in Skopje. Diese Triologie wird er auch beim kommenden Double Feature in der SCHIRN zeigen.

Driant Zeneli -How deep can a Dragonfly swim under the Ocean - 2021- 11.23 - 4K film, Courtesy the Artist
Maeve Brennan An Excavation (2022) film still © Maeve Brennan. Commissioned by Stanley Picker Gallery, Kingston University

MAEVE BRENNAN

Maeve Brennan ist eine in London lebende Künstlerin und Filmemacherin. Sie arbeitet mit Bewegtbild, Installation, Skulptur und Printmedien um die politische und historische Resonanz von Material und Ort zu erforschen. Sie entwickelt Langzeituntersuchungen, die von persönlichen Begegnungen geleitet werden, und greift dabei auf Expertenwissen, das eine materielle Praxis umfasst, z.B. von Geolog*innen, Archäolog*innen, Architekt*innen oder Restaurator*innen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Reparatur, zurück. In „An Excavation“ (2022) arbeitet sie mit dem forensischen Archäologen Dr. Christos Tsirogiannis zusammen, um internationale Untergrundnetzwerke aufspüren, die die Plünderung, den Schmuggel und den Verkauf kultureller Artefakte erleichtern.

KARIMAH ASHADU

Die Filmkünstlerin Karimah Ashadu setzt sich mit Lebens- und Arbeitsbedingungen, Patriarchat und Vorstellungen von Unabhängigkeit im sozioökonomischen und kulturellen Kontext Nigerias und Westafrikas auseinander. In der SCHIRN zeigt Ashadu ihren Film Plateau (2021, 30 Min.), benannt nach dem nigerianischen Bundesstaat Jos-Plateau. Die Videoarbeit begleitet eine Gruppe von Bergmännern, die in dieser Region illegal Zinn und Kolumbit abbauen und eröffnet einen postkolonialen Diskurs. Nach dem Ende des im Kolonialismus begründeten Handels mit den Mineralien 1985 wurden dort viele Unternehmen geschlossen und die Arbeiter entlassen. Das erworbene Wissen wurde jedoch weitergegeben und es formierten sich unabhängige Gemeinschaften, um erneut nach Mineralien zu schürfen. Plateau porträtiert Arbeiter, Dorfbewohner und Landbesitzer, die über die Zerstörung der Landschaft, Ungerechtigkeit und die Gefahren des Zinnabbaus reflektieren. Im Vordergrund steht jedoch das Streben nach Unabhängigkeit durch Arbeit. Ashadu lenkt dabei den Blick unverklärt auf die Schönheit der zerfurchten Landschaft und kreiert ein reales Bild der gefährlichen Arbeitsbedingungen, ohne zu moralisieren.

Karimah Ashadu, Plateau (Filmstill), © Karimah Ashadu